Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Mann zum Abheben

Ein Mann zum Abheben

Titel: Ein Mann zum Abheben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Wright
Vom Netzwerk:
ich es nicht mehr aus. Ich steckte Tory in ihre Babyschaukel und brachte Courtney ins Badezimmer, wo ich mich auf den geschlossenen Toilettendeckel setzte und schuldbewusst meine Brust auspackte. Jetzt sitzt Courtney aufrecht auf meinem Schoß und stößt mir mit jedem Baumeln ihrer Beine gegen die Schienbeine.
    Nancy ist mit den Anweisungen an die Jungen scheinbar zu weit gegangen, denn als die Stelle kommt, wo die Engel des Herrn rund um sie herum erscheinen und sie große Angst haben, beginnen die Jungen herumzutorkeln, einige von ihnen greifen sich ans Herz und lassen sich nach hinten fallen, als wären sie erschossen worden. Jetzt lacht die Gemeinde schallend. Unzählige Kameras klicken gleichzeitig los.
    Vor sechs Jahren saß ich auf dem Toilettendeckel, und Belindas Baby trank, geschüttelt vor Erleichterung, ein paar tiefe Züge und wurde schwer. Das Schreien hatte sie so fertiggemacht, dass sie innerhalb von Minuten eingeschlafen war. Ich hörte, wie sich meine Küchentür öffnete, und löste meine Brustwarze aus dem Mund des Babys, der nun locker und feucht von der Milch war, und machte schnell meine Hemdbluse zu. Als ich in die Küche schlüpfte, stand Belinda da. Sie sagte, sie könne nicht glauben, dass sie das getan habe. Sie sei eine Idiotin. Wie es mir ergangen sei, wie ich zurechtgekommen sei? Ich wusste, wie schwer es war, für einen Nachmittag loszukommen, und dass sie den Tränen nah war. Sie habe es vermasselt. Sie habe ihren Fehler unmittelbar nach dem Shampoonieren gemerkt, den Plastikumhang ausgezogen und sei gegangen, und jetzt müsse sie alles wieder von vorn anfangen, einen nach dem anderen anrufen, um drei Kinder unterzubringen, und im Gegenzug
den Frauen der halben Nachbarschaft einen Gefallen tun. Ich sagte ihr, dass Baby hätte sich einen Augenblick aufgeregt und wäre dann prompt eingeschlafen. Ich erzählte Belinda nie, dass ich etwas getan hatte, das schlimmer war, als mit ihrem Mann ins Bett zu gehen, und selbst heute noch könnte ich es ihr nicht beichten, obwohl wir zum ersten Mal in all den Jahren, die wir uns kennen, wirklich so etwas wie Freundinnen sind.
    Die Engel treten vor, heben ihre Arme und fangen an, mit zittrigen Stimmen ein süßliches Weihnachtslied zu singen. Tory steht fast in der Mitte und sieht zu uns herüber, um sicher zu sein, dass wir da sitzen, wo wir immer sitzen, bevor sie ihre volle Aufmerksamkeit Megan, der Chorleiterin, die ihre Ehe gerettet und ihr Haus angebaut hat, zuwendet. Torys Gesicht wirkt ernst, und neben mir in der Bank rutscht Phil ein wenig hin und her, als würde er das Gewicht ihrer Ängstlichkeit auf sich nehmen.
    »Sie kennt das Lied sehr gut«, flüstere ich ihm zu, und er nickt, ohne aber die Augen auch nur eine Sekunde von seiner Tochter zu lassen.
    Die Engel schauen staunend in die Krippe hinunter, wo die Rolle des Neugeborenen von einer Vierzig-Watt-Glühbirne übernommen wurde. Wo taucht in diesem Krippenspiel Maria Magdalena auf?, denke ich, und sofort erinnere ich mich daran, dass sie natürlich nicht auftauchen würde. Zu jener Zeit wäre sie selbst noch ein Säugling gewesen - ein weiblicher Säugling während Herodes’ Regierungszeit und seiner Kindsmorde, unwichtig und deshalb völlig sicher. Es würde Jahre dauern, bis sie erwachsen sein würde und den Mann träfe, der sie zugleich retten und in Gefahr bringen würde. Mir fällt das Bild im Damenwaschraum ein, der Gesichtsausdruck, den ich als Begehren interpretierte, der aber genauso gut auch Angst gewesen sein könnte. Diese
beiden ähneln einander, nicht wahr? Die gleichen leicht geöffneten Lippen, flehend ausgestreckten Arme, ein wenig starren Blicke. Was schaute sie an? Oder vielmehr, wen schaute sie an?
    Phil lässt seinen Arm hinter meinen Rücken gleiten und legt ihn mir über die Schultern. Torys Gesicht wird vom matten Licht der leuchtenden Krippe beschienen, und ich lächle sie an, obwohl ich weiß, dass sie mich wahrscheinlich nicht sehen kann. Um uns herum gibt es überall Illusionen, die einen sind überzeugender als die anderen, und trotz dem, was ich so behaupte, glaube ich nicht wirklich, dass man einfach nur ein bisschen hinausgehen kann. Meine alberne Äußerung, dass die Ehe eine Tür ist, durch die man ein und aus gehen kann … mein tröstlicher Mythos, dass du gehen, aufschauen und sagen kannst: »Oh, es regnet«, und dann schnell zurücklaufen kannst - in meinem Herzen weiß ich es besser. Draußen ist draußen. Du bist in die Toilette verbannt. Du

Weitere Kostenlose Bücher