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Ein Mann zum Abheben

Ein Mann zum Abheben

Titel: Ein Mann zum Abheben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Wright
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doppeltes Passepartout und einen schweren Rahmen. Jemand hat eine Menge Geld für dieses Bild ausgegeben.
    »Wer immer sie ist und was immer sie getan hat, wir sind zu dem Schluss gekommen, sie in den Damenwaschraum zu hängen.« Nancy tritt einen Schritt zurück und hebt das Kinn eines Engels an, um ihr Werk zu inspizieren. »Hier wird sie keinen stören.«
     
    Zehn Minuten später sitzen Phil und ich in unserer üblichen Bank, auf der linken Seite in der Mitte. Die Musik setzt ein, und die Lichter gehen aus.
    Die Hirten strömen mit ihren Stäben herein, die Heiligen Drei Könige folgen ihnen, die Jüngsten werden von einer weiblichen Hand, vermutlich gehörte sie Nancy, energisch aus dem Vestibül geschoben. Ein leises Lachen geht durch die Reihen der Gemeinde. Die Leute finden es toll, wenn
beim Krippenspiel etwas schiefgeht. Letztes Jahr konnten Kelly und ich in letzter Minute die Myrrhe nicht finden, und so schickten wir den kleinen Jay Penney mit einer Rollkartei aus Jeffs Büro den Mittelgang hinunter.
    Tory kauert zusammen mit den anderen Engeln hinter einer Wand aus Kerzen. Das vierzehnjährige Mädchen, das seit sechs Jahren in Folge die Hauptrolle spielt, wartet hier auf ihr Stichwort. Sie hasst die Rolle, für die sie ausersehen wurde, aber es ist der Preis, den sie für eine hohe, reine Stimme zahlen muss. Sie sieht gequält aus, und das Engelskostüm passt ihr schon lange nicht mehr. Die Betttücher schnüren sie ein und drücken ihre Brust flach, ihre Flügel aus Seidenpapier verbreiten bei jeder Bewegung Goldglanz. Belinda dreht sich von zwei Reihen weiter vorn zu mir um und formt lautlos Worte mit dem Mund, die ich nicht ganz verstehe. Doch ich lächle und nicke, obwohl ich einen Kloß im Hals verspüre und meine Augen sich mit Tränen füllen. Beim Krippenspiel weine ich immer.
    Belindas mittleres Kind, das Mädchen, das sie die lange, qualvolle Schwangerschaft hindurch nach mir zu benennen drohte und das so schüchtern ist, dass es keinen Engel spielen will, verlässt die Bankreihe ihrer Mutter und läuft zu meiner. Wahrscheinlich wollte mich Belinda fragen, ob es in Ordnung ist, wenn Courtney nach hinten kommt und bei mir sitzt.
    Ich ziehe das kleine Mädchen auf meinen Schoß. Während sie hochklettert, graben sich ihre kleinen spitzen Knie in meine Oberschenkel. Courtney hing schon immer an mir, und ich frage mich, ob sie sich irgendwie an den Nachmittag erinnert - es ist schon Jahre her -, an dem Belinda sie bei mir gelassen hat. Wir hatten vergessen, die Wickeltasche mit ihrer Flasche aus dem Auto zu holen, mir war es aber erst aufgefallen, als Belinda schon abgefahren war. Den
Namen des Friseursalons, in dem sie sich die Haare schneiden lassen wollte, wusste ich nicht. Kaum war sie zehn Minuten weg, begann Courtney zu schluchzen. Von ihrem Schreien wurde Tory wach, die vierzehn Monate älter war und auch bald weinte. Ich hatte Tory ausschließlich gestillt und keinen Muttermilchersatz im Haus. Zudem konnte ich mit nur einem Autositz wohl kaum beide Mädchen zum Lebensmittelmarkt mitnehmen. Ich versuchte alles, was mir in den Sinn kam - auf und ab gehen, singen, mit einem Baby auf jeder Hüfte herumspringen.
    Ich rief Nancy an. »Soll ich ihr Saft geben?«, und Nancy sagte, nein, Belinda ist komisch, wenn es um Zucker geht. Ich fragte: »Hast du Muttermilchersatz?«, und Nancy antwortete: »Schon, aber du musst das erst mit Belinda besprechen. Ich glaube, die Kleine braucht Soja, weil sie eine Laktose-Unverträglichkeit hat.«
    Über die beiden schreienden Babys hinweg konnte ich sie kaum verstehen. »Ich kann Belinda nicht anrufen«, entgegnete ich. Es war die Zeit, in der noch nicht jeder ein Handy hatte, die Zeit, in der Mütter wirklich weg sein konnten, wenigstens für eine Stunde. »Ich weiß nicht einmal, wo sie ist.«
    »Vielleicht schaut sie ja auf den Rücksitz und stellt fest, was sie vergessen hat«, meinte Nancy, aber Belinda war schon zu lange weg, so dass darauf nicht zu hoffen war. Hätte sie die Wickeltasche entdeckt, wäre sie schon längst wieder zurück.
    »Dann bleibt dir nichts anderes übrig, als sie schreien zu lassen«, stellte Nancy auf ihre kühle Art fest. »Es bringt ein Baby nicht um, wenn es ein paar Stunden ohne Nahrung bleibt.«
    Wer aber jemals ein paar Stunden mit einem hungrigen Baby zugebracht hat, der weiß, was das heißt. Courtney griff
mit ihren Fäustchen verzweifelt in die Luft und weinte in tiefen, herzzerreißenden Schluchzern. Schließlich hielt

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