Ein Mensch namens Jesus
ein rosiges, glattes Etwas, das einem Stein ähnelte und sich als die Glatze eines ihm unbekannten Mannes entpuppte, der sich gerade über seine Sandalen bückte.
»Ich habe meinen Bruder Simon mitgebracht«, erklärte Andreas außer Atem. Er also war der zaghafte Rufer gewesen.
Simon hob nun sein Gesicht, das ebenfalls an einen grobbehauenen hellen Stein erinnerte. Sein naiver Blick wirkte etwas rührselig. Er schien Jesus aufrichtig, aber auch halsstarrig und charakterschwach. Nathan erschien, um zu verkünden, daß das Essen fertig sei. Es bestand aus gebratenem Fisch. Schweigend aßen sie eine Weile, bis Andreas plötzlich erklärte, sein Bruder habe sich ebenfalls vorgenommen, ihm zu folgen. Jesus äußerte sich nicht zu dieser Entscheidung. Was sollte er anfangen mit diesen beiden ungehobelten Burschen? Jetzt schaltete sich auch Nathan ein, um ein gutes Wort für die zwei einzulegen.
»Wir sind beide verheiratet«, erklärte Simon. »Wir werden erst einmal unsere Familien in Galiläa benachrichtigen müssen.«
»Und wer wird sich um sie kümmern?« erkundigte sich Jesus.
»Ach, da gibt es genügend Leute«, erwiderte Andreas rasch.
Wer weiß, dachte Jesus, vielleicht ließ sich mit solch impulsiven Menschen sogar eher etwas ändern in Israel als mit allzu besonnenen. Einfach so seine Familie und Arbeit verlassen...
»Ich bin nicht verheiratet«, sagte Jesus. Dann ließ er einen Augenblick verstreichen, um ihnen Gelegenheit zu geben, darüber nachzudenken, wie unbequem es für sie werden würde, verheiratet zu sein und doch ohne Frauen durch die Lande zu ziehen. »Aber ich werde mit euch nach Galiläa kommen. In Bethlehem allerdings müßten wir einen Zwischenaufenthalt einlegen, damit ich meine Mutter besuchen kann. Sie lebt dort bei meinen Brüdern.«
Zustimmend nickten sie.
»Ein Schwimmer schwimmt nackt«, fuhr er fort. Verblüffte Gesichter. Ob sie ihn wohl verstanden hatten? »Ein freier Mann ist der, der alles hinter sich verbrannt hat«, sprach er weiter. »Ihr werdet mir nur folgen können, wenn ihr alles verbrannt habt.« Er sah sie prüfend an. Sicherlich hatten sie verstanden. Jetzt blieb nur noch abzuwarten, ob sie diese Lebensregel akzeptierten.
Zwar bot die kurze Reise von Betanien nach Bethlehem kaum Gelegenheit, näher auf die Bedingung einzugehen, die er den beiden Brüdern zur Auflage gemacht hatte, dafür konnte Jesus aber einen Wesenszug an ihnen feststellen, der beiden gemeinsam war: Sie mußten irgendein Erlebnis hinter sich haben, das sie zutiefst enttäuscht und entrüstet hatte. Doch was mochte das gewesen sein? Was hatten sie erlebt? Ein Zusammenstoß mit einem Rabbi, der es mit seinen Pflichten nicht so genau nahm, oder vielleicht eine Dirnengeschichte? Sicherlich nichts Schwerwiegendes. Sie schienen sich eher von etwas Unbestimmtem treiben zu lassen, einer allgemeinen Enttäuschung, die zur Zeit in der Luft lag.
Als sie Bethlehem erreichten, sagte er zu ihnen: »Laßt euch nicht ablenken wie die Kinder, die im Dunkeln grauenhafte Gefahren sehen in einem Spinnrad oder einem Hund. Die wirkliche Gefahr ist die Dunkelheit selbst. Die Kerzen des wahren Tempels sind erloschen. Unser Ziel ist es, sie wieder anzuzünden.«
»Das Licht wird dir den Weg weisen«, erwiderte Andreas.
Am Tor, das nach Bethlehem hineinführte, trafen sie einen Bekannten von Simon und Andreas. Anfang Zwanzig mußte er sein und nördlicher Abstammung, dem Kupferton seines Haares nach zu urteilen, das er wie Jesus im Nacken zusammengefaßt trug. Eine lustige Nase hatte er, lachende Augen und einen Mund, der wie geschaffen schien für Honig, Wein und Frauen. Was wird davon übrigbleiben, wenn er all das zur Genüge genossen hat? überlegte Jesus. Andreas und Simon stellten ihm Jesus vor. Er hieß Philippus und war ebenfalls Galiläer. Von wo genau? »Aus Betsaida.«
Jesus folgte zerstreut der halb geflüsterten Unterhaltung, die sich zwischen Andreas, Simon und Philippus entspann. Ihn amüsierten die gewichtigen Mienen, die die beiden Brüder dabei aufsetzten. Mußte sich denn selbst hier die Eitelkeit vordrängen? Simon und Andreas benahmen sich buchstäblich wie Werber. Für welche Armee, welchen Kampf? Wollten sie gegen die Römer kämpfen, gegen den Sanhedrin, die gesamte Phalanx der Rabbiner und gegen das Universum? Sollte er seine Absicht nicht lieber von Anfang an klarstellen? Das hätte ich ja auch getan, dachte er, wenn ich es nur selbst kennen würde, dieses Ziel. Er umkreiste unentwegt eine
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