Ein Mensch namens Jesus
zuhören zu können. »Kannst du uns dein Anliegen in wenigen Worten zusammenfassen?« bat Simon, Jesus’ Halbbruder, der erst kurz zuvor hinzugekommen war.
»Es sind das Leben und die Wahrheit, die allein im Glauben begründet sind. Alles andere verdeckt nur den Tod.«
Philippus, der neben Jesus auf dem Boden saß, nahm seine Hand, um sie zu küssen. Jesus ließ es geschehen.
»Deshalb also verkündet Jokanaan überall, du seist der Messias?« fragte Justus. »Sogar den Samaritern ist es zu Ohren gekommen.«
»Jokanaan ist ein frommer Mann, aber ich glaube nicht, daß es ihm oder irgend jemand anderem zusteht, den Messias zu bestimmen.«
»Willst du uns damit sagen, daß Jokanaan sich täuscht und du nicht der Messias bist?«
»Es steht nicht in meiner Macht, über Jokanaans Ankündigung ein Urteil zu fallen. Ich sage lediglich: Wenn ich tatsächlich der Messias sein sollte, so weiß ich es nicht. Heilige Worte darf man nicht einfach so obenhin sagen. Ein Messias ist ein Thronfolger Davids; welchen Anlaß sollte ich oder wer auch immer haben zu glauben, daß gerade ich dieser Nachfolger bin?«
»Immerhin bist du aus dem Stamme Davids«, gab Judas zu bedenken. »Ihr schließlich auch«, wandte Jesus ein.
»Und du, wartest du auf den Messias?« fragte Simon.
»Zu jeder Zeit kann sich Gottes Wille offenbaren. Aber der wirklich Gläubige braucht nicht erst außergewöhnliche Zeichen, um seine Gläubigkeit zu zeigen. Ja, einerseits warte ich auf den Messias, andererseits aber auch wieder nicht.«
Selbst die Kinder waren still geworden.
»Und deine Gefährten, folgen sie dir um deiner selbst willen oder weil sie in dir den Messias sehen?« wollte Justus wissen.
»Sie folgen dem, der das Wort Gottes spricht. Alles andere ist ihre Sache.«
»Wird es in deiner Schar auch Frauen geben?« fragte Maria.
»Die Lebensgefährtinnen des Mannes müssen nicht zurückstehen.«
»Frauen!« murmelte Simon.
Jesus sah ihn kopfnickend an. Ja, Frauen.
Sie erhoben sich, das Essen stand bereit. Jesus bat darum, daß Maria neben ihm sitzen dürfe. Er sprach die Gebete. Dann erhob sich sein Bruder Simon, um dem Herrn für den Segen zu danken, der ihnen durch die Rückkehr seines Bruders Jesus zuteil geworden sei. »Jesus ist nun ein heiliger Mann«, sagte Simon, »Dein Licht weise ihm den Weg, auf dem wir ihm folgen werden, damit Dein Wille geschehe.«
Ein heiliger Mann. Eine vorsichtig und diplomatisch gewählte Bezeichnung war das. Man gestand ihm einen besonderen Status zu, nicht jedoch den des Messias, noch nicht. Mit seinem undurchdringlichen Blick beobachtete er seine vier Brüder. Welcher wohl?... Vielleicht würde er es nie erfahren.
Er erzählte Maria von seinen Reisen. Sie stellte ihm viele Fragen über die Essener. Warum er sich wieder von ihnen getrennt habe? »Es sind doch schließlich fromme Männer«, meinte sie.
»Die Frömmigkeit nützt vor allen Dingen jenen, die ohne Glauben sind«, antwortete er, »und die Furcht ohne Ende steht genau im Widerspruch zum Frieden des Herrn.«
Alle verstummten sie, während er sprach, begierig, seine Worte in sich aufzunehmen und sie in sich wirken zu lassen. »Muß man den Herrn denn nicht fürchten?« fragte Jakobus.
»Ein aufrecht gehender Mensch geht den Weg des Herrn, weshalb sollte er ständig zittern?« Sie wandten ein, daß vielleicht gerade die Furcht ihn aufrecht gehen lasse. Nein, die Weisheit sei es, war seine Antwort. Die Gefährten, vor allem Andreas, schienen immer stärker verunsichert; man überschüttete sie mit Fragen über dies und das, es war, als hätte sich ein Teil von Jesus’ Ansehen auf sie übertragen.
Hinter dem Haus blühten die Mandelbäume, und ihr Duft schlich sich von draußen herein. »Du bringst uns den Frieden«, stellte Maria fest. »Es ist das erstemal, daß ich den Duft der Mandelbäume rieche.«
Nach der Mahlzeit verteilten die Frauen die Reste an die Aussätzigen, die auf der Straße warteten.
An diesem Abend schlief Jesus schnell ein. Er träumte, daß er in einem Kornfeld stand, dessen Ähren sich unter seinen Händen neigten. Nein, nicht unter seinen Händen; unter dem Wind.
III.
Eine Seherin in Sebaste
Zwei oder eher drei Männer hatten sich spontan dazu entschlossen, ihm zu folgen; es würde gewiß nicht lange dauern, und andere würden sich ihnen anschließen. Wenn er sprach, verstummte alles um ihn her, nein, mehr noch, man hörte ihm andächtig zu und sah zu ihm auf. Also hieß es nunmehr reden und immer
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