Ein Mensch namens Jesus
für unsere außergewöhnliche Freizügigkeit verantwortlich war. Man muß sich immer ein Hintertürchen offenhalten«, bemerkte er.
»Und alles übrige ist ein Märchen«, meinte Kaiphas.
»Aber nein, überhaupt nicht.«
»Willst du dich über mich lustig machen?«
»Nein, wirklich nicht, Kaiphas.«
»Du glaubst im Ernst, daß ich, der Hohepriester, Fürst von Judäa werden könnte?«
»War das vor zwanzig Jahren etwa anders?« gab Gedalja zurück. »Wie gesagt, es würde genügen, Rom Beweise für unsere Treue zu liefern und Tiberius klarzumachen, daß die Aufrechterhaltung des Friedens in Judäa und Jerusalem in seinem Interesse liegt.«
»Du warst und bleibst doch, wie ich glaube, ganz meinem Schwiegervater ergeben. Warum hast du ihm diese Möglichkeit nicht früher vorgeschlagen?«
»Jede neue Lage bringt auch neue Möglichkeiten mit sich. Die Situation damals sah ganz anders aus. Jesus, seine Jünger und ihre Anhänger stellten eine eng verbundene und gut aufeinander eingespielte Kraft dar; das ist heute nicht mehr der Fall. Unsere Aufgabe ist es nun, diese Gegebenheiten für uns zu nutzen. Vielleicht versuche ich auch, mich an Pilatus für das zu rächen, was er Hannas angetan hat. Und du bist womöglich derjenige, der von dieser Rache profitiert. Du gehörst zum Haus des Hannas.«
»Und du?«
»Ich?« fragte Gedalja und stutzte. »Du meinst wohl, was dabei für mich herausspringen soll? Hat irgend jemand in den dreißig Jahren, die ich nun schon im Dienst des Sanhedrin und des Tempels stehe, auch nur den kleinsten Funken Profitgier an mir entdeckt?«
»Du willst also jenem Judas oder auch jenem Thraker vorschlagen, Jesus’ Anhängerschar in Jerusalem wieder zusammenzuführen, damit sie während des Passah-Festes für Unruhe in der Stadt sorgen, die wir dann in den Griff bekommen. Ist das nicht sehr gewagt? Wir könnten so Pilatus oder sogar Herodes auf Gnade oder Ungnade ausgeliefert sein, und du weißt ja, daß Herodes sich nichts mehr wünscht, als wieder die Macht seines Vaters in Judäa zu erlangen.«
»Das wäre eingetreten, wenn Jesus den Aufstand organisiert hätte, denn er ist ein unberechenbarer Mann, von dem man nie so genau weiß, was er im Schilde führt. Aber wenn einer von unseren Leuten den Aufruhr anstiftet, sieht die Sache ganz anders aus. Pilatus würde es nicht wagen, sich in eine rein religiöse Angelegenheit einzumischen. Außerdem sollten wir, um dem Statthalter jegliche Einmischung unmöglich zu machen, das Ganze so organisieren, daß der Aufstand im Tempel losbricht und es so aussieht, als greife er auf die Stadt über, damit Pilatus einen gehörigen Schreck bekommt. Wir könnten zum Beispiel den Vorfall im Bazar neu inszenieren. Pilatus’ Machtbefugnis erstreckt sich nicht bis in den Tempelbezirk. Deshalb sind wir ja auch befugt, unsere eigene Polizei zu haben.«
»Bleiben wir vorerst lieber auf dem Boden der Tatsachen«, meinte Kaiphas, der Gedaljas theoretischen Gebilden allmählich nicht mehr recht zu folgen vermochte. »Nehmen wir zunächst einmal an, daß einer der beiden Jünger deine Geschichte glaubt. Wie könnte uns das für Jesus’ Verhaftung dienlich sein?«
»Das ist ganz einfach. Derjenige, für den wir uns entscheiden, müßte sich Jesus bei seiner Ankunft in Jerusalem anschließen und uns Stunde und Ort mitteilen, wo wir ihn zu fassen bekommen.«
»Das alles ist ziemlich kompliziert«, bemerkte Kaiphas. »Ich frage mich, ob es nicht einfacher wäre, unsere Kundschafter einzusetzen. Nun, da ihn seine Jünger verlassen haben, stellt Jesus keine Gefahr mehr dar. Wir könnten ihn leicht festnehmen, und niemand würde sich darum kümmern.«
Gedalja sah den Hohenpriester ungläubig an. Dieser Kaiphas war wahrhaftig kein Mann mit politischem Sachverstand!
»Du sagst ja gar nichts mehr«, bemerkte der Hohepriester.
»Kaiphas, entweder Jesus ist nicht mehr gefährlich, wie du anzunehmen scheinst, und dann verstehe ich nicht, warum wir uns die Mühe machen sollten, ihn festzunehmen. Oder er ist gefährlich, und in diesem Fall erscheint es mir eine gewagte Sache, uns auf unsere Kundschafter zu verlassen. Jesus während des Passah-Festes unter zweihundertfünfzigtausend Menschen herausfinden zu wollen wäre ein Ding der Unmöglichkeit! Nehmen wir einmal an, wir schieben seine Verhaftung hinaus, er hat aber inzwischen eine richtige Revolte vorbereitet, eine große Revolte, die wir nicht mehr unter Kontrolle bringen können — da säßen wir ganz schön in der
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