Ein Mensch namens Jesus
zu schaffen.
Gleich am nächsten Tag wurde Judas im Tempel vorgeführt. Verstört sah er aus und böse: Man hatte ihn im Schlaf gefaßt. Er hatte nicht einmal mehr Zeit gehabt, seine Haare im Nacken zusammenzubinden. Mit zerzaustern Haar stand er nun vor ihnen.
»Laßt uns allein, aber bleibt vor der Tür stehen«, befahl Gedalja den Wachen, die Judas hergebracht hatten. Dann wandte er sich Judas zu, der den Hohenpriester verstohlen musterte, und sagte: »Wenn dein Raub vor drei Jahren sich nicht im Tempelbezirk abgespielt hätte, wärst du jetzt in den Händen der römischen Justiz. Wir können dich übrigens immer noch den Römern ausliefern, da es ja auch Römer waren, denen du damals Kupferamulette verkauft hast, die du für goldene ausgabst, bevor du sie anschließend um ihre Geldbeutel erleichtert hast. Obendrein hast du noch zu behaupten gewagt, du hättest sie getötet.«
Judas sah sie von unten her an, er witterte ein Geschäft.
»Es wäre doch wirklich schade«, fuhr Gedalja fort, »wenn ein Mann, der glaubt, für die Befreiung seines Landes vom römischen Joch gekämpft zu haben, wegen kleiner Diebereien an einem römischen Kreuz enden müßte. Welch göttlicher Hohn, daß große Pläne immer von banalen Zwischenfällen durchkreuzt werden! Der Löwe wird vom Speer des Jägers durchbohrt, weil ihn ein Dorn in der Pfote an der Flucht hinderte, und der Sperber taumelt am Himmel, weil er eine vergiftete Ratte gefressen hat!« Er lachte kurz auf. »Sag uns, Judas Iskariot, hat Jesus dich aufgrund eines anderen kleinen Diebstahls verjagt? Was hast du gestohlen?«
»Warum verurteilt ihr mich nicht gleich?« entgegnete Judas herausfordernd. »Sogar Verbrecher haben ein Recht auf einen Urteilsspruch! Mit Leuten wie euch will ich nichts zu schaffen haben! Ihr und die Römer, ihr steckt sowieso unter einer Decke!«
»Na gut«, sagte Kaiphas, »ruf die Wachen.«
Gedalja ging zur Tür.
»Warte einen Augenblick«, entfuhr es Judas plötzlich.
Gedalja blieb stehen.
»Nein, ruf die Wachen«, wiederholte Kaiphas.
Gedalja legte die Hand auf die Klinke.
»Warte!« rief Judas.
»Warten auf was?« fragte Gedalja und drehte sich um.
»Ihr wollt etwas von mir. Was ist es?«
»Wir wollen etwas!« empörte sich Gedalja. »Unverschämtheit! Gleich hole ich wirklich die Wachen. Kaiphas, dieser Mann müßte gekreuzigt werden, und da wagt er zu behaupten, wir wollten etwas von ihm!«
»Erbarmen!« rief Judas und fiel auf die Knie. »Erbarmen! Sagt mir, was ich tun soll!«
»Als erstes, Judas Iskariot, leg deinen Hochmut ab. Wahrscheinlich bist du intelligent. Aber mit deinem verächtlichen Gehabe kommst du nicht weit.«
Judas nickte.
»Warum hast du Jesus verlassen?«
Judas, der noch immer auf den Knien lag, schloß die Augen und legte den Kopf zurück. Er machte einen gequälten Eindruck. »Ich war... enttäuscht«, flüsterte er. »Schrecklich enttäuscht. Und empört.«
»Wegen dieser Geschichte von Fleisch und Brot, nicht wahr?«
»Ihr wißt recht gut Bescheid«, entgegnete Judas. »Ja, deswegen. Aber das war nicht der einzige Grund.«
»Weshalb denn noch?« wollte Kaiphas wissen.
»Wenn ihr schon so viel wißt, dann müßtet ihr auch das wissen«, gab Judas mit neuerwachender Aggressivität in der Stimme zurück. »Wir würden es gern aus deinem Mund hören.«
Judas setzte sich auf den Boden. »Der Mißerfolg«, sagte er. »All mein Tun war von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die Zeloten sind Versager. Sie können sich nicht organisieren. Ein Schwerthieb hier, ein Schwerthieb da, das bringt doch nichts. Ich hatte gehofft, Jesus könnte in den Provinzen großen Rückhalt gewinnen und mächtig genug werden, um das ganze System zu stürzen, all die hohen Tiere wie euch und die Römer. Und da fängt er an zu faseln, daß wir ihn essen sollen...«Judas seufzte und rang in völliger Ratlosigkeit die Hände. »So viele Jahre der Anstrengungen und Hoffnungen gehen einfach in Rauch auf! Der letztmögliche Anführer hält seinen Nacken dem Henker hin... Ihr könnt das nicht verstehen. Niemand kann es verstehen.« Wie ein Häufchen Elend saß er vor den beiden. »Warum habe ich euch nur daran gehindert, die Wachen zu holen? Worauf kann ich noch hoffen als auf den Tod? Ruft die Wachen.«
Aufmerksam betrachtete Kaiphas den Mann. Wie leicht ist doch die Seele aus der Ferne zu ergründen, dachte er; man beschreibt sie mit ein paar Sätzen, und alles scheint klar, dies ist gut, und das ist böse, dieser Mann
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