Ein Mensch namens Jesus
ansprechen wollte, den er manchmal ganz ungezwungen »Kind« nannte, weil Johannes mit Abstand der Jüngste unter ihnen war, überkam ihn ein plötzliches Gefühl der Ergriffenheit, als sehe er Johannes nach sehr langer Trennung wieder. Johannes’ Augen begegneten den seinen, ungeduldig und fragend, aber Jesus blieb stumm. Wenn alle Jünger ihn verlassen würden, Johannes würde als einziger bleiben. Und wenn er, Jesus, einmal nicht mehr sein sollte, würde Johannes sich weiterhin und mit gleicher Begeisterung so verhalten, als lebe sein Meister noch. Die Essener, dachte Jesus, würden ihn, ohne zu zögern, in ihre Gemeinschaft aufnehmen. Johannes ist Jokanaan sehr ähnlich.
Johannes errötete. »Denkst du gerade über mich nach?« fragte er leise.
»Ja«, antwortete Jesus. »Du bist gesegnet.«
Johannes blickte weg. Wenig später sagte er: »Mein Bruder Jakobus wird zurückkommen. Mach dir da keine Sorgen!«
»Woher willst du das wissen?«
»Er muß einfach.«
»Es wäre mir lieber, er käme aus freiem Willen«, entgegnete Jesus. »Es fällt nun mal nicht jedem leicht, sich zu ergeben. Wir bestehen aus Fleisch und Blut, und es ist schwer, sich dem Vater mit Fleisch und Blut zu ergeben.«
Jesus kniff die Augen zusammen. Das klang ja beinahe wie Jokanaans Testament. »Durch das Fleisch allein!«
»Habe ich etwas Falsches gesagt?« erkundigte sich Johannes.
»Nein. Du bist wirklich gesegnet.«
»Du hast mich nicht auf Herz und Nieren geprüft.«
»Doch.«
»Und die anderen?«
»Jeder hat seine Bestimmung.«
Er erhob sich und ging über die Felder. Sie folgten ihm und setzten ihren Weg fort. Bei Einbruch der Dunkelheit gelangten sie in Tiberias an. Fast unmittelbar nach ihrer Ankunft umgab sie eine Menschenansammlung. Man jubelte Jesus zu. Eine Frau rief: »Dies ist der Messias, hört auf ihn!« Ein Mann fragte: »Wohin gehst du, Menschensohn?« Als sie erfuhren, daß er auf dem Weg nach Jerusalem war, murrten sie.
»Verläßt der Hirte seine Schafe aus Angst vor dem Wolf?« hielt er ihnen entgegen. »Ich bin der Hirte. Ich kenne meine Schafe, und meine Schafe kennen mich, so wie ich den Vater kenne und der Vater mich kennt, und ich werde mein Leben hingeben für meine Schafe.« Einige Männer hielten Fackeln hoch über ihre Köpfe, um Jesus im Dunkeln besser sehen zu können. Da erkannte Jesus ein Gesicht in der Menge.
»Bist du es, Thomas?« rief er.
Thomas bahnte sich einen Weg durch das Gedränge und trat auf ihn zu. »Hier bin ich, Meister!«
Er wirkte müde und schien den Tränen nahe.
»Du bist ungeheuer intelligent, Thomas, aber dadurch bist du auch arm, denn der Verstand allein ist wenig. Erst das Herz vermag zu verstehen.«
»Ich bleibe jetzt bei dir, Meister.«
»Was hat dich dazu gebracht, deine Meinung zu ändern?« wollte Jesus wissen.
»Beim erstenmal oder diesmal?« wollte Thomas wissen.
Jesus konnte nicht mehr an sich halten und brach in herzliches Gelächter aus. Auch Thomas begann zu lachen. Alle sahen die beiden verwundert an. Der Messias konnte auch Scherze machen?
»Alter Schlaukopf«, meinte Jesus nur.
»Du hast den Messias zum Lachen gebracht?« fragten die Leute Thomas überrascht, ja fast entrüstet.
Selbst Simon Petrus und Andreas waren angesichts dieses Heiterkeitsausbruchs, dessen Grund ihnen schleierhaft war, unangenehm berührt. Nur Johannes lächelte, denn er hatte begriffen.
»Die Griechen haben wohl nichts von dir wissen wollen, hm?« fragte Simon Petrus.
»Die Pest über die Griechen!« rief Thomas. »Sie lachen nicht genug.«
»Vielleicht lachst du zuviel«, hielt ihm Simon Petrus vor.
»Und du zuwenig«, gab Thomas zurück. »Der Herr lacht; wofür hältst du dich denn, daß du so ernst bleibst?«
»Der Herr lacht?« empörte sich Simon Petrus.
»Du lästerst Gott!« erklärte Andreas mit Bestimmtheit, und ein Schaulustiger wollte wissen: »Worüber sprechen die denn?«
»Das laß dir gesagt sein, Simon Petrus, mit einem sorgenvollen Gesicht kommst du nicht weit!« verkündete Thomas.
»Lacht der Herr?« wurde Jesus von einem jungen Mann aus der Menge gefragt.
»Wenn der Herr zornig sein kann, warum sollte Er dann nicht auch lachen können?« entgegnete Jesus.
»Worüber sollte der Herr denn lachen?« wollte der junge Mann wissen.
»Über die Absurdität des Lebens«, erwiderte Jesus.
»Warum beweint Er sie nicht?« forschte ein Greis nach.
»Und warum stellt ihr euch den Herrn immer als eine wütende oder mürrische Macht vor?« fragte Jesus
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