Ein Mensch namens Jesus
mein Vater<, rief er, >hab Erbarmen mit mir! Schicke Lazarus zu mir, damit er seine Fingerspitze in Wasser taucht, um meine Zunge zu kühlen, denn ich vergehe in dieser Feuersglut.< Doch Abraham entgegnete: >Erinnere dich daran, mein Sohn, daß zu deinen Lebzeiten alle guten Dinge dir gehörten und alle schlechten für Lazarus bestimmt waren. Nun findet er hier Trost, und du mußt leiden. Aber das ist noch nicht alles: Uns trennt ein tiefer Abgrund; niemand, weder von unserer Seite noch von der deinen, kann ihn überwinden^«
Jesus machte eine Pause. Thomas zog ein schiefes Gesicht, was Johannes nicht entging.
»Was ist los?«
»Eine schreckliche Geschichte ist das, einfach schrecklich!« murmelte Thomas.
»Warum denn?«
»Ja, merkst du denn nicht, daß es hier um einen finsteren und niederen Racheakt geht?«
»Laß ihn erst zu Ende erzählen«, flüsterte Johannes.
»>Nun gut, Vater<, meinte daraufhin der reiche Mann zu Abraham, >darf Lazarus dann wenigstens in das Haus meines Vaters zurückkehren, in dem noch fünf meiner Brüder leben, um sie zu warnen und sie so vor diesem Ort der Qualen zu bewahren?< Aber Abraham entgegnete: >Sie haben Moses und die Propheten gehabt, auf die sollen sie hören.< — >Nein, Vater Abraham<, hielt ihm der Reiche entgegen, >nur wenn ihnen ein Toter erscheint, werden sie ihre Sünden bereuen^ Abraham erwiderte: >Wenn sie auf Moses und die Propheten nicht hören, dann werden sie auch einem, der vom Grabe auferstanden ist, nicht mehr Gehör schenken.<«
Eine Weile verharrten die Zuhörer in tiefem Schweigen. Entsetzen hatte sie gepackt und nachdenklich gemacht. Fledermäuse flatterten dicht über ihren Köpfen. Rasch brach die Nacht herein, kühl und feucht. Die Frauen und Kinder fröstelten.
»Ihr seht also«, schloß Jesus, »daß es keinen Sinn hat, die Alten jung zu machen oder die Toten ins Reich der Lebenden zurückzuholen.« Johannes blickte sich um, Thomas war fort. Auch beim Abendessen, zu dem die Nazarener Jesus und seine Jünger eingeladen hatten, fiel allen auf, daß Thomas fehlte.
»Er ist wieder fortgegangen, nicht wahr?« fragte Jesus. Und kurz darauf: »Hat er gesagt, warum?«
Johannes schlug die Augen nieder. Jesus sprach das Gebet und brach das Brot. Als Simon Petrus und Andreas sich zurückgezogen hatten, um Körper und Geist von der Mühe des Tages auszuruhen, wandte sich Jesus erneut an Johannes: »Was hat er gesagt?«
»Er hat das Gleichnis abgelehnt.«
Jesus nickte. Er legte sich nieder und lauschte den Geräuschen der Nacht.
»Ich will nicht, daß du zu meinen Füßen liegst, du bist doch kein Hund!« sagte er zu Johannes. »Du kannst neben mir schlafen.« Johannes streckte sich neben ihm aus, und selbst als Jesus längst eingeschlafen war, lag er noch hellwach. Zweimal beugte er sich über seinen Herrn, um sich zu vergewissern, daß er atmete und nur schlief. Er versuchte, Thomas’ Mißbilligung zu verstehen, gab es aber schließlich auf und fand in den ersten Morgenstunden endlich Schlaf. Im Traum sah er Thomas, wie er ihm mit dem Zeigefinger auf den Lippen Schweigen gebot. Er konnte Thomas fragen, sooft er wollte, der entlaufene Jünger blieb stumm. »Was ist dein Geheimnis?« rief er ihm zu. Davon erwachte er.
»Welches Geheimnis?« fragte ihn Jesus.
Und Johannes wußte keine Antwort darauf.
Auf dem Weg nach Nain und Skythopolis hoffte Johannes ständig auf Thomas’ Rückkehr. Sein Blick suchte unter den zahllosen Reisenden nach dem dünnen Lächeln über dem eigenwilligen Kinnbart, nach den Wieselaugen unter der gewölbten Stirn und den struppigen Augenbrauen; Thomas war nirgendwo zu sehen.
»Wahrscheinlich hat er den Jordan überquert«, mutmaßte Andreas, »um sich jetzt in Philadelphia mit parthischen Landstreichern oder skythischen Wandermönchen in seinen obergelehrten Reden zu ergehen.«
»Aber wo sind nur die anderen, all die anderen?« fragte Johannes bekümmert. »Wo ist mein Bruder?«
Jakobus fanden sie in Archelaus wieder. Bei ihm waren auch Natanael und Judas, der Sohn des Jakob. Nicht, daß sie zu Jesus gekommen wären, Johannes entdeckte vielmehr zufällig ihre Spur, nachdem ihm jemand von einem Mann erzählt hatte, der früher einmal einer von Jesus’ Gefährten gewesen sei und nun in einer Taverne arbeitete. Johannes suchte in allen Tavernen Archelaus’ — und die Stadt war mit ihnen reichlich gesegnet — und fragte sich dabei, welcher der vom rechten Weg abgekommenen Jünger wohl Schenkkellner geworden sein
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