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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Messadié
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sind immer stolz auf ihr Wissen.«
    In der Morgensonne schimmerten die Steine golden. Zänkische Tauben umflatterten die korinthischen Kapitelle. Die beiden jungen Leute bahnten sich einen Weg durch das Tor der Pracht, vorbei am Quartier der Nazarener zu ihrer Linken und den Ständen der Holzverkäufer zu ihrer Rechten. Sie gelangten in den weiträumigen Hof der Frauen, bei dessen majestätischem, trotz der Menschenmenge erhabenem Anblick sie wie gebannt stehenblieben. Zu beiden Seiten lenkten weiße Säulenreihen den Blick auf die Tempelfassade. Über dem würdevollen Portal des von vier Wandpfeilern eingesäumten Nikanor-Tores erhob sich die imposante Fassade, deren schlichter Schmuck lediglich aus zwei Wandpfeilern an den Außenkanten sowie zwei Porphyrsäulen zu beiden Seiten des hohen, rechteckigen Tores bestand. Rechts vom Tor war der Bereich der Leprakranken, links der Verkaufsstand für öle. Und überall Händler über Händler.
    Ausgerüstet mit auseinanderklappbaren Marktständen, hatten sie sich ringsum niedergelassen, um Opfertauben, Öl, Wein, Myrrhe, Weihrauch oder Gebetsriemen und Kerzen zu verkaufen. Auch Geldwechsler sah man unter ihnen, die Münzen aus Lukanien oder Mazedonien, aus Kappadokien oder Achaia, deren Prägungen Bildnisse von Göttern, fernen Königen, nackten Menschen oder auch von Tieren trugen, in Schekel umzutauschen. Und es gab auch einen Arzneihändler, der seine Heilmittel an Frauen verkaufte, die an häufigen Zuständen litten, auch ein Wasser- und Ysophändler war da und ein Verkäufer von Zuckerwerk. Wieder ein anderer bot Duftwasser und parfümierte Tücher an, und alle hantierten bewundernswert fingerfertig mit ihrer Ware, die sie lauthals priesen. Sie lächelten dienstfertig oder schnitten Grimassen, wenn ihnen die Leprakranken zu nahe kamen und ihre Kunden erschreckten, indem sie ihnen mit den Stümpfen ihrer Glieder unter der Nase herumfuchtelten. Sobald sich aber ein Priester in der Nähe zeigte, setzten sie im Handumdrehen wieder eine würdevolle Miene auf.
    Jesus war fassungslos. »Warum werden sie nicht von den Priestern verjagt?« fragte er.
    »Sie haben die Genehmigung, hier Handel zu treiben«, erklärte ihm Jonathan.
    »Aber... diese Geschäftemacherei?«
    »Sie zahlen den Priestern eine Abgabe dafür.«
    Das Gesicht des Jungen lief rot an.
    »Wie alt bist du eigentlich?« fragte Jonathan.
    »Zwölf.«
    »Und wer ist dein Lehrer?«
    »Mein Vater.«
    Sie gingen bis zu der Mauer, die die Grenze zu den Innenhöfen bildete. Jonathan blieb stehen, um eine griechische Inschrift zu entziffern. »Was steht da geschrieben?« fragte Jesus.
    »Daß die Heiden hier nicht mehr weitergehen dürfen.«
    Und tatsächlich, jenseits der Einfriedung waren bereits weniger Leute, zumal der Großteil der jüdischen Pilger erst später erwartet wurde. Endlich traten sie in den Tempel ein. Sein Gewölbe war so hoch, daß Jesus vor Staunen den Mund aufsperrte. Auf halber Höhe schwebte eine Weihrauchwolke, genährt von riesigen Feuerbecken, die soeben von einigen auf kleinen Leitern sitzenden Leviten nachgefüllt wurden. Die Wolke reichte bis zum äußersten Ende des Bauwerks, das vom massiven Opferaltar beherrscht wurde, und löste sich dort in einen weißlichen Nebel auf, den die Flammen vieler hundert Kerzen zerrissen. Beim Anblick dieser Wolke hatte man den Eindruck, die äußersten Grenzen des Erdenlebens berührt zu haben; darüber mußte bereits der Himmel beginnen. Auf dem Podest, auf dem sich der Altar befand, kamen gerade die vorgeschriebenen dreiundneunzig Priester dem Morgenritual nach, ihnen gegenüber ihre Helfer, die sie im unaussprechlichen Namen Gottes segneten. Leviten schoben ihnen eine Schar Lämmer zu. Ein verzweifeltes Aufblöken zeigte die Opferung eines jeden Tieres an. Das Blut rieselte über das grobe Gestein des Altars, wo es ein paar Minuten feucht schimmerte, bevor es in dunklen Lachen gerann. Beim Näherkommen beobachteten Jesus und Jonathan, wie sich ein Priester bückte, um frisches Blut für das Trankopfer in eine silberne Schale zu füllen, während ein anderer das Tempelbanner entrollte. Hierauf hallte plötzlich das kriegerische Dröhnen der Becken durch den Tempel, beantwortet von den triumphierenden Fanfaren der silbernen Trompeten. In dem gewaltigen Getöse vermochte niemand die Worte zu verstehen, welche die Leviten rezitierten und die aus dem für diesen Tag vorgeschriebenen Psalm sowie Passagen aus dem Gesetze bestanden. Bald schwoll die Musik so

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