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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Messadié
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zwischen einer Nichte, die nicht einmal zu wissen schien, was er in dieser Gesellschaft zu suchen hatte, und einem Neffen abgeschoben worden, der eine Schleuder bei sich trug und diese vor sich hinlegte, wie in Erwartung eines neuen Goliath — , da drehte sich die Unterhaltung bereits nur noch um eines: den Tempel von Jerusalem. Was aus diesem Bekannten geworden sei? Nach Antiochia sei er geflohen. Und aus jenem? Der sei Vorsteher der Schreiber geworden. Und der Palast? Und der Hohepriester? Und der Sanhedrin? Man redete bis tief in die Nacht. Hatten diese Leute denn vor, hier auch noch zu übernachten? Jesus war müde, und seine Besorgnis um die Mutter wuchs. Endlich verabschiedeten sich die Verwandten, was ebenfalls kein Ende nehmen wollte, und verschwanden im Dunkel der nächtlichen Straße Richtung der Herberge, die sie gewiß ganz allein für sich gemietet hatten. Josef, der leicht schwankte, weil er ein oder zwei Fingerhut voll Wein getrunken hatte, musterte zufrieden die abgeräumten Tische, nickte dann und ließ seinen Blick auf Jesus ruhen, der mit verschlossenem Gesichtsausdruck an die Wand gelehnt dastand. Dann ging er wortlos schlafen. Jesus löschte alle Lampen bis auf eine, damit seine Mutter im Durcheinander der noch herumstehenden Tische und Bänke ihren Weg finden konnte.
    Er setzte sich in der Finsternis auf sein Bett und beschloß, seine Gebete so lange nicht zu sprechen, bis seine Mutter heimgekehrt sei. Wenig später knarrte die Tür. Sandalen huschten kaum hörbar über die Dielen, Kleider streiften Möbelstücke, dann herrschte völlige Dunkelheit. Maria hatte die letzte Lampe gelöscht. Er tastete sich zu ihr. Sie spürte seine Gegenwart und blieb unbeweglich stehen.
    »Wo warst du denn?« fragte er sie.
    »Bei den Nachbarn.«
    »Bin ich ein Bastard?«
    »Du bist anerkannt worden«, sagte sie mit kaum hörbarer Stimme.
     
    Wie das Gras auf einem Grab wächst, vergingen die Monate und Jahre. Jesus war mittlerweile zwölf Jahre alt. Eines Morgens faßte der alte Zimmermann seinen Sohn bei den Schultern und sah ihm lange prüfend ins Gesicht. Dabei kam er ihm so nahe, daß Jesus jedes Haar, jede Pore auf seiner knolligen Nase und jede Falte um seine Augen hätte zählen können. Josef runzelte die Augenbrauen. Jesus fragte nicht, warum.
    Zwei- oder dreimal hatte er sich Tadel eingehandelt, weil Josef zugetragen worden war, daß der Sohn häufig der Synagoge einen Besuch abstattete, um sich dort mit dem Rabbiner Nahum zu unterhalten. Jesus hatte nicht gefragt, was an einem Gespräch mit einem Priester so verwerflich sei.
    Und er fragte auch nicht, weshalb Josef seit neuestem nahezu allmorgendlich das Bettzeug seines Sohnes zu untersuchen pflegte; er tat, als bemerke er es nicht. Nur eines Morgens, während einer dieser inquisitorischen Untersuchungen, blieb er neben dem Bett stehen und sah den Vater fest an. Der Alte erwiderte den Blick. Jesus wich ihm nicht aus. Von diesem Tag an gab es keine Inspektionen mehr.
    Doch der Flaum auf Jesus’ Oberlippe war für jedermann sichtbar. Der Frühling kam. Die ersten Lilienblüten wagten sich hervor, die ersten Wiedehopfe ließen ihr Upupup! erschallen. Eines Abends sagte Josef bei Tisch: »Das Passah-Fest rückt näher. Wir reisen nach Jerusalem.« Und während Maria den Tisch abräumte, meinte er noch, zu Jesus gewandt: »Du bist jetzt zwölf Jahre alt. Du trägst nun die Verantwortung für alles, was du tust und läßt.« Mit einem strengen Blick unterstrich er diese Worte.
    Es gab kaum Mädchen in Jesus’ näherer Umgebung. Aber sicher würde es in Jerusalem welche geben — oder gar Schlimmeres. Das aber würde gewiß nicht viel an Jesus’ Erfahrung in dieser Hinsicht ändern. Der Knabe wußte sehr wohl, daß es im römischen Viertel von Karfanaum ein Freudenhaus gab, erzählte doch der Geselle, wenn Josef nicht in die Werkstatt kam, was immer öfter passierte, gern pikante, zur Hälfte sicher erfundene Geschichten.
    Bevor sie aufbrachen, meinte Josef noch: »Jerusalem ist ein gutes Stück größer als Kafarnaum. Und so viele Menschen, wie zum Passah-Fest dort zusammenkommen, wirst du noch nie in deinem Leben gesehen haben. Wir könnten uns im Trubel verlieren. Ich werde auf alle Falle bei Simon in der Straße der Schreiber wohnen. Hier hast du Geld, damit du dir etwas zu essen kaufen kannst, falls du dich tatsächlich verläufst. Nimm nichts an von einem Fremden!«
    Bereits auf dem Weg nach Jerusalem, kurz hinter Nain, wäre Jesus fast von den

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