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Ein Mensch namens Jesus

Ein Mensch namens Jesus

Titel: Ein Mensch namens Jesus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerald Messadié
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gab unter der Last nach, und die reifen Früchte zerplatzten auf den Pflastersteinen. Ihr Saft spritzte blutrot über den Boden.
    »Ich würde das alles eher instinktiv nennen«, gab Eukrates zu bedenken. »Und ich finde es fast beklagenswert, in welch abfälligem Ton man heutzutage von den Instinkten zu sprechen pflegt. Die Instinkte stellen die andere Seite der menschlichen Natur dar. Sie sind nicht mehr, aber auch nicht weniger wert als die Intelligenz. Unser Gehirn kann ebensoviel Übles ausbrüten wie die Instinkte. Als die Juden noch ein großes Volk waren, glaubten sie wesentlich stärker als heute an die Wirksamkeit von Opfergaben, wobei sie auch Menschenopfer nicht ausklammerten. Hast du das Gefeilsche um die Opfergaben beobachtet, das sich zwischen den Gläubigen und den Händlern im Tempel abgespielt hat? Was für eine Knauserigkeit! Man könnte meinen, sie kaufen die Tauben und die Milch für ihren eigenen Bedarf. Wenn ihr Gott wirklich die Geschehnisse im Tempel mitverfolgt, muß ihm davon übel werden.«
    Sie schlenderten die Straße entlang und musterten die Passanten, die ihre Blicke erwiderten.
    »Du sprachst gerade von Menschenopfern«, sagte Ion. »Willst du damit sagen, daß die Juden tatsächlich Menschen geopfert haben?«
    »Dafür gibt es mehr als einen Hinweis in ihren geheiligten alten Büchern, und in jedem Fall den auf Abraham, ihren legendären Stammvater, dem von seinem Gott befohlen wurde, den eigenen Sohn Isaak zu opfern. Der arme Mann fühlte sich vom Schmerz schier zerrissen, doch da es sein Gott war, der ihm dieses grauenhafte Opfer abverlangte, mußte er gehorchen. Also nahm er seinen Sohn, um ihm die Kehle durchzuschneiden. Die Überlieferung sagt, daß genau in dem Augenblick, als der Vater das Messer ansetzte, eine Art geflügelter Geist, den die Juden Engel nennen, erschien und dem Geschehen Einhalt gebot. Das beweist, daß die Juden, die man damals Hebräer nannte, vor Menschenopfern nicht zurückschreckten, wenn es der Himmel wollte.«
    »Wie schrecklich!« rief Ion. »Doch was ist das?«
    Sie waren am Fuße eines von fünf Säulenvorhallen flankierten Bauwerkes angelangt, das von einer Menschenmenge umringt war. Sie traten etwas beiseite, weil die Ansammlung aus Kranken und körperlich Behinderten bestand. Manche waren blind, andere verkrüppelt oder mit Geschwülsten bedeckt, wenn sie nicht sogar im ersten Stadium des Aussatzes waren.
    »Wenn ich nicht irre«, meinte Eukrates, »befinden wir uns im neuen Teil von Jerusalem, der unter Herodes dem Großen entstanden ist und Kainopolis heißt. Und dies hier müßte das Haus der Barmherzigkeit oder, wie sie es nennen, Beth Chesedah sein. In seinem Innern soll sich ein Bad befinden, das von Heilquellen gespeist wird.«
    »Nein, so etwas!« rief Ion aus. »Komm, gehen wir! Und verzeih, wenn ich mich wiederhole, aber dies alles erscheint mir doch recht primitiv.«
    »Falls es die Menschenopfer sind, die dich so aufgebracht haben«, meinte Eukrates mit einem leisen Lächeln, »dann muß ich dich wohl daran erinnern, daß wir Griechen sie auch nicht immer verachtet haben.«
    »Na, hör mal, Eukrates! Wenn man dir so zuhört, könnte man meinen, die Menschheit hätte nichts als Menschenfleisch gehabt, um sich zu ernähren.«
    »Ich bin mir gar nicht so sicher, ob nicht du oder ich ein paar Kannibalen unter unseren Vorfahren haben. Aber ohne erst so weit auszuholen, möchte ich dein Gedächtnis ein wenig auffrischen. Unser eigener Gott Dionysos, der Sohn des Zeus und der Sterblichen Semele...« Ein Bettler hatte wehklagend Eukrates’ Arm ergriffen. Dieser machte seine Hand frei, zog seinen Geldbeutel, den er am Gürtel verborgen trug, und suchte eine Kupfermünze hervor, um sie dem Bettler zu reichen.
    »Du hast heute morgen bereits zweimal Bettlern ein Almosen gegeben«, bemerkte Ion. »Sie werden dich hier noch arm machen. Was für ein Land!«
    »Die Bettler gehören genauso zu unserer Menschenrasse wie die Kannibalen. Wie ich gerade sagen wollte, wurde Dionysos von seinen eigenen Priesterinnen, den Bakchen, in Stücke gerissen und verschlungen. Du hast doch sicher Euripides gelesen? Nun, dann wirst du dich erinnern, daß in den >Bakchen< Pentheus, Dionysos’ Feind, dasselbe Los ereilt, weil er sich gegen diesen Gott gestellt hat. Und du wirst dich auch daran erinnern, daß Orpheus von den Mänaden ebenfalls zerrissen und verschlungen wurde. Die Götter sind lediglich eingeschritten, um seinen Kopf und seine Lyra, die auf den

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