Ein Mensch wie Du
sofort erkannt, auch wenn du jetzt Francesco Corani heißt … Der große Corani, der beste Tenor unserer Erde! Ich habe es gleich gehört und bin in der Nacht hierher gekommen.« Sie lächelte schwach und ein wenig wehmütig. »Aber diesesmal ohne Papiere für das Standesamt …«
»Greta –« Corani trat auf sie zu. Es war, als sei ihm jeder Schritt eine Qual, als bringe ihn jeder Meter einer Schuld entgegen, die er nie begleichen konnte und die er zeit seines Lebens mit sich herumtragen würde. »Ich will dir alles erklären …«
»Was willst du mir erklären, Franz? Warum du damals weggelaufen bist, wo du die ganze Zeit gewesen bist, warum du nicht geschrieben hast, was du mit Sandra Belora hast oder mit anderen, die in diesen Monaten deinen Weg gekreuzt haben – willst du mir das alles erklären?«
»Greta – ich habe gemein gehandelt, ich weiß es.« Er streckte ihr die Hand hin, sie zitterte. »Willst du mir trotzdem die Hand geben?! Du brauchst es nicht – ich habe es nicht verdient. Aber glaube mir – es war alles so schrecklich, so hoffnungslos, so ohne Ausweg für mich …«
»Und heute?« Greta nahm die Hand, drückte sie schwach und entwand ihm dann ihre Finger. »Heute bist du weltberühmt und hast alles vergessen, nicht wahr?«
Corani senkte den Kopf. »Du – du – hast auf mich gewartet?« fragte er zögernd. »Die ganze Zeit?«
»Ja. ›Wenn ich Sänger bin, hole ich dich nach München‹ hast du gesagt. ›Wir heiraten dann‹ – ich habe es geglaubt, Franz.« Sie hob die Hand, als er den Kopf aufrichtete und etwas sagen wollte. »Nein – sprich jetzt nicht! Erkläre nichts, versuche keine Ausflüchte. Ich bestehe nicht mehr auf deinem Versprechen. Ich war verlobt – ich habe mich gestern abend von diesem Mann gelöst, als ich dich singen hörte. Nicht, weil ich dich zwingen will, etwas zu tun, was du längst vergessen hast, sondern weil ich allein sein will, jetzt, wo ich weiß, daß du lebst und mein Leben –« Sie sprach plötzlich nicht weiter, sondern wandte sich brüsk ab und weinte haltlos. Sie lehnte den Kopf an die Wand und schluchzte, ihr schlanker Körper bog sich wie in einem Krampf.
Corani stand hilflos daneben und rang die Hände. Zaghaft berührte er endlich ihre Schultern und drehte sie zu sich herum. Ihr tränenüberströmtes Gesicht war kindlich und aufgelöst. »Wie damals in der Gärtnerei«, dachte er, »als sie den letzten Omnibus wegfahren ließ und bei mir blieb.« Er hatte dieses Gesicht geküßt, er hatte von ihm geträumt, wenn er ruhelos in seinem Zimmer auf dem Bett lag und nur wenige Stunden Schlaf fand, sondern nur übte, übte und lernte, um Professor Glatt nicht zu enttäuschen und für Greta und sich eine Zukunft zu gewinnen.
»Greta«, sagte er zögernd. Seine Stimme war belegt vor Erregung. »Ich habe keine Zeit gehabt, an das Vergangene zu denken. In Österreich bin ich nachts durch die Straßen geschlichen und an den Promenaden entlang und habe in den Abfalleimern gesucht, ob nicht etwas zu essen darin war. Und fand ich ein halbes Brot, das ein Kind weggeworfen hatte, oder einen Apfelkern, dann setzte ich mich in eine Ecke und aß es mit Heißhunger. Das alles wißt ihr nicht … Und das hat mich verändert, das hat mich hart gemacht.«
»Und war das alles nötig?« Gretas Stimme war ohne Mitleid und Mitgefühl. Zum erstenmal erkannte auch Corani, daß Greta in diesen beiden Jahren eine andere geworden war, reifer, kritischer und nicht weniger hart dem Leben gegenüber als er selbst. Diese Erkenntnis erschreckte ihn – er fühlte, daß ihn die Wandlung Gretas mehr ergriff als das plötzliche Wiedersehen.
»Ich trage an allem allein die Schuld«, gestand er. »Ich habe versagt, seelisch versagt. Es war ein Kurzschluß in mir – das ist alles, was ich sagen kann.«
Greta Sanden nickte. »Und jetzt bist du stolz geworden, unnahbar, eingebildet, du bist der große Corani, dem eine Welt zu Füßen liegt und der an einem Abend drei- oder vier- oder fünftausend Mark verdient. Der Star! Der Liebling der Götter!«
»So darfst du nicht reden, Greta.« Er machte eine hilflose Gebärde des Bittens und zeigte dann auf die Sesselgruppe am Kamin. »Komm näher … Setz dich …«
Greta schüttelte wild den Kopf. »Warum, Franz? Ich gehöre nicht in diese weichen Sessel – ich habe immer auf harten Stühlen gesessen. Trauter Abend am offenen Kamin … Vielleicht eine Märchenstunde von der guten Fee Sandra, die den Sänger Corani groß machte
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