Ein Mensch wie Du
Jahre.« – »Und wie lange Theaterarzt?« »Etwa sieben Jahre.« Der Arzt setzte sich verwundert auf das Ruhebett, das neben dem Schminktisch stand. Dabei musterte er Francesco Corani. »Er sieht blaß aus«, dachte er. »Abgespannt, so, als habe er nächtelang kaum geschlafen. Vielleicht hat er Lampenfieber, das gibt es selbst bei den größten Künstlern.« Caruso litt so unter Lampenfieber, daß er vor seinem Auftritt am ganzen Körper zitternd hinter der Bühne stand und sich überwinden mußte, ins Scheinwerferlicht zu treten. Richard Tauber schwitzte vor Lampenfieber seine Hemden durch, nur Leo Slezak war nicht aus der Ruhe zu bringen und riß Witze vor dem Auftritt oder ärgerte die Inspizienten und Requisiteure. »Fühlen Sie sich nicht wohl, Herr Kammersänger?« fragte der Arzt vorsichtig. Er wußte, daß große Sänger empfindsamer als Mimosen sind und mit Samthandschuhen angefaßt werden wollen.
Francesco Corani schüttelte den Kopf. »Nicht unwohl in dem Sinne, daß man mir therapeutisch helfen könnte. Nein, durchaus nicht.« Er beugte sich zu dem Arzt vor. »Sie sind sieben Jahre Theaterarzt und fast vierundzwanzig Jahre im Dienst der Gesundheit. Sie haben bestimmt manchen Hysteriker gesehen, viele Schizophrene und Halbverrückte, nicht wahr?« – »Mir reicht's jedenfalls«, sagte der Arzt vorsichtig.
»Sehen Sie! Einer der Schizophrenen bin ich!«
»Aber Herr Kammersänger!«
»Ja, ja.« Corani winkte ab, als der Arzt weitersprechen wollte. »Sagen Sie nicht aus Höflichkeit, das wäre unmöglich. Als ich noch neu war auf den Brettern, die die Welt bedeuten – wie man so schön umschreibt –, sagte man mir: ›Wir vom Bau haben alle einen Tick! Sie bekommen ihn auch noch.‹ Ich habe darüber gelacht – jetzt habe ich den Tick! Schütteln Sie nicht den Kopf, Herr Doktor. Es ist so. Ich habe den Tick, trotz aller Erfolge, trotz allen Glanzes, mit dem man mich umgibt, im Grunde ein armseliger, unangenehmer, fast schon widerlicher Mensch zu sein. Ein Mensch, der sich selbst verleugnet, der sich verraten hat, der gar nicht der ist, als den man ihn kennt, und der doch nicht dahin zurück kann, woher er gekommen ist, weil auch das einfach unmöglich ist.« Corani lehnte sich zurück und trank seinen Tee aus. »Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen. Es ist auch schwer, hinter diese Dinge zu leuchten, weil ich eben ein Mensch bin, der willensschwach ist und stets leitbar durch Eindrücke des Augenblicks. Ich bin innerlich zerrissen, ich bin ein Torso eines Menschen – verstehen Sie das?«
»Nicht ganz, Herr Kammersänger.« Der Arzt betrachtete seine Hände, die er aneinandergelegt im Schoß liegen hatte. »Sie sind der größte Sänger unserer Zeit – genügt Ihnen das nicht?«
»Das ist meine Stimme. Sie müssen einen Unterschied machen zwischen der Stimme und dem Menschen, dem sie gehört. Als der Mensch bin ich absolut nichts wert.«
»Die Stimme ist immer der seelische Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Wie könnten Sie so wundervoll singen, wenn Sie nicht auch seelisch das nachempfinden, was Sie darstellen?!« Der Arzt erhob sich, er sah ein wenig ratlos auf den Sänger hinab und hob die Schultern. »Sie sind durch irgendeinen Einfluß erregt. Ich werde Ihnen ein Beruhigungsmittel geben, und nach dem Konzert, morgen früh, ist alles wieder wie vordem!«
»Und genau das soll es nicht sein!« rief Corani erregt. Er sprang auf und trat auf den Arzt zu. »Ist es möglich, daß ich verrückt bin, Herr Doktor? Kann das sein? Sagen Sie es ehrlich! Sehe ich wie ein Schizophrener aus? Blicken Sie mich an: Bin ich verrückt?!«
»Aber Herr Kammersänger …« Der Arzt wich zurück. »Welche Gedanken …«
»Seien Sie ehrlich, Doktor!«
Der Arzt zuckte wieder mit den Schultern. »Möglich – verstehen Sie mich recht –, möglich ist alles. Aber das kann nur eine eingehende psychiatrische Untersuchung feststellen!«
»Um das festzustellen, brauche ich keinen Psychiater!« sagte Corani grob. Der Arzt atmete auf … Diesen Ton kannte er, es war der Starton, der selbstbewußte Ausdruck großer Künstler: »Was ich sage, ist richtig!«
»Ich werde Ihnen doch ein paar Tabletten geben«, sagte er und verließ eilig die Garderobe. Auf dem Flur schüttelte er den Kopf und ging dann schnell die langen Gänge entlang zu seinem Zimmer, wo er ein paar harmlose Tabletten aus dem Wandschrank nahm, die er in einem Glas Wasser löste, das sie milchig färbten und so wirksam und sehr medizinisch aussehen
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