Ein Mensch wie Du
Kamin nehmen wollen, erzählte er, und durch eine unkontrollierbare Bewegung sei er mit dem schweren Silber in das Glas des Spiegels gekommen. »Ich ersetze Ihnen den Schaden selbstverständlich«, sagte er, aber Dr. Fischer winkte ab und meinte, das sei nicht der Rede wert.
Die nächsten Gastspiele waren für Hamburg, Hannover und Berlin vereinbart. Caricacci hatte die Gelegenheit des Münchener Gastspiels wahrgenommen und schnell eine Deutschlandtournee zusammengestellt. »Man muß jetzt das Eisen schmieden«, sagte er zu Sandra. »Corani ist in bester Verfassung – jetzt können wir gute, harte Mark sammeln. Ein Devisenkonto in allen Ländern der Erde macht uns unabhängiger von jeder Währungskrise.«
So sehr sich Corani Mühe gab, nach außen hin seine Selbstsicherheit zu bewahren, in den stillen Stunden des Abends, wenn er allein war und Sandra murrend und beleidigt die gesellschaftlichen Pflichten übernahm, dachte er immer wieder an die Minute, in der er vor dem Spiegel gestanden und sein fremdes Gesicht angestarrt hatte.
Es war eine furchtbare Minute gewesen, eine Minute, in der er in das nackte, wahre Leben blickte, das er jetzt führte, ein Blick in die Leere, die so erschreckend war, so gründlich das innere Gebäude, das er sich geschaffen hatte, zerstörend, daß er nicht anders konnte, als den Spiegel zu zertrümmern, der ihn so hüllenlos und armselig zeigte. Aber das Nackte blieb – manchmal sah er sich um, ob die Leute nicht auf der Straße stehen blieben und ihm nachschauten, weil er bloß und ohne Hülle an ihnen vorüberging; er beobachtete Sandra, ob sie sich etwas anmerken ließ und sah, daß auch sie nur Theater spielte und alles um sie herum, die Schönheit, die Zärtlichkeit, der Ruhm, der Geist und das Gefühl, nur synthetisch war, anerzogen, geprobt und der Retorte für gutes Benehmen und starmäßiges Auftreten entnommen.
Er hatte versucht, an jenem Abend Greta noch zu erreichen. Er war hinaus zum Hauptbahnhof gefahren und den Nachtzug abgegangen, mit dem Greta nach Köln zurückfahren mußte. Aber sie war nicht auf dem Bahnhof – denn sie hatte damit gerechnet, daß Franz zum Bahnhof kommen würde, und war deshalb mit einem Personenzug zwei Stationen vorausgefahren. Dort wollte sie in den FD-Zug umsteigen, um einem weiteren Zusammentreffen mit Krone aus dem Weg zu gehen.
Sandra Belora schob die Nervosität Coranis auf sein Wiedersehen mit Deutschland. Der Diener schwieg. Er hatte weder Dr. Fischer noch den anderen etwas von dem Besuch erzählt. Er ahnte, daß dieses blasse junge Mädchen irgendwie mit dem Schicksal des großen Corani verquickt war, daß sie etwas bedeutete in seinem Leben, und deshalb hielt er es für taktvoll, nichts gesehen und nichts gehört zu haben.
Das Gastspiel in Hannover, zu dem Corani Professor Glatt eingeladen hatte, ohne dabei zu wissen, daß ihn dieser schon in München gehört hatte, war keine Opernaufführung, sondern ein Arienabend mit dem niedersächsischen Staatsorchester. Besonders berühmte und bekannte Arien der italienischen und französischen Komponisten standen auf dem Programm, in bunter Folge wechselnd mit Duetten, die er mit Sandra singen würde.
In Hannover wohnten sie im ›Deutschen Haus‹ – Caricacci hatte vier Zimmer gemietet mit zwei Bädern und einem Salon, in dem er am Vorabend des Gastspiels wie ein kleiner König eine Pressekonferenz abhielt und Wunderdinge von Francesco Corani und Sandra Belora erzählte. Vor allem die ›Entdeckung‹ der Wunderstimme bei dem grauenhaften Erdbeben von Epidauros wurde in seiner temperamentvollen südländischen Schilderung zu einem Ereignis, das weltbewegend schien wie die erste Atombombe oder die Entdeckung der Antibiotika.
Kurz vor dem Beginn des Konzertes, schon im Frack, aber noch ohne weiße Schleife, die ihm immer Sandra binden mußte, weil er behauptete, daß keiner eine Frackschleife so elegant und korrekt wie sie binden könne, ließ er den Theaterarzt zu sich in die Garderobe kommen. Caricacci war bei Sandra im Ankleidezimmer und besichtigte ein neues Abendkleid, das sie sich in einem hannoverschen Modeatelier hatte anfertigen lassen.
Der Theaterarzt sah erstaunt auf den großen Sänger, als er die Garderobe betrat. Corani saß am Schminktisch und trank Tee.
»Sie haben mich rufen lassen, Herr Kammersänger?«
»Ja.« Corani nickte. Er drehte sich auf seinem Hocker herum und sah den Arzt groß an. »Wie lange sind Sie Arzt, Herr Doktor?«
»Ungefähr vierundzwanzig
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