Ein mörderischer Sommer
hast keine Kontrolle mehr …«
»Was soll ich denn machen, Joanne? Was soll ich denn gegen die Schmerzen tun?« Eve richtet sich langsam auf und beginnt in der Diele hin und her zu gehen wie ein Tier im Käfig. »Ich weiß, daß du mir das mit den Schmerzen nicht glaubst …«
»Ich glaube es dir.«
»Aber du glaubst, daß sie in meinem Kopf entstehen.«
»Ja«, sagt Joanne. Eve rollt frustriert mit den Augäpfeln. »Aber sagen wir mal, ich irre mich«, fährt Joanne fort, steht auf und versucht, mit Eves hektischem Auf und Ab Schritt zu halten. »Sagen wir mal, es gibt tatsächlich eine physische Ursache deiner Schmerzen, die alle Ärzte übersehen haben. Eve, Tausende von Menschen in diesem Land leiden unter chronischen Schmerzen, die von den Ärzten weder diagnostiziert noch behandelt werden können. Diese Menschen müssen sich irgendwann einmal entscheiden. Entweder machen sie den Schmerz zum Mittelpunkt ihres Lebens – das tust du –, oder sie akzeptieren den Schmerz, akzeptieren, daß er immer dasein wird und daß sie nicht viel dagegen unternehmen können, außer einfach weiterzuleben.«
»Ich soll die Schmerzen also ignorieren …«
»So gut du kannst, ja. Ich weiß, du denkst jetzt, für mich ist es einfach, das zu sagen …«
»Weil es für dich nämlich wirklich sehr einfach ist, das zu sagen …«
»Nein«, widerspricht Joanne. »Nein, es ist nicht einfach für mich. Ich habe in den letzten Monaten auch so eine Phase durchgemacht.«
Eve bleibt stehen. »Von was redest du?«
Joanne zögert. »Die Anrufe«, sagt sie schließlich.
Eve braucht ein paar Sekunden, um zu begreifen, was Joanne meint. »Die Anrufe«, wiederholt sie verächtlich. »Du bist überzeugt, das nächste Opfer des Würgers zu sein, und ich bin die Verrückte?«
»Nun gut«, räumt Joanne ein, »vielleicht bin ich die Verrückte von uns beiden! Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Die Sache ist die: Darauf kommt es gar nicht an. Ich erhalte diese Anrufe von jemandem, der droht, er werde mich umbringen. Er hat mich auch heute abend wieder angerufen, kurz bevor ich hierherkam. Er sagt, er wird bald kommen.«
Eve bricht in schallendes Gelächter aus.
»Das Problem ist«, fährt Joanne fort, »daß das nun schon seit Monaten so geht und mir niemand glaubt, oder wenn man mir glaubt, dann heißt es, man kann nichts dagegen unternehmen. Zum Schluß habe ich eingesehen, daß auch ich nicht viel dagegen tun kann. Ich habe getan, was ich konnte – die Polizei informiert, zweimal die Telefonnummer ausgetauscht, neue Schlösser und eine Alarmanlage einbauen lassen. Jetzt habe ich die Wahl. Entweder schließe ich mich für alle Zeiten in mein Haus ein, oder ich mache das Beste aus dem Rest Leben, der mir noch bleibt, und lebe einfach wie bisher weiter.« Sie sucht nach einem Funken Verständnis in Eves Augen, aber sie bleiben leer, geben nichts preis. »Ich will nicht sterben«, sagt Joanne. »Der Tod meines Großvaters hat mir das gezeigt. Aber es gibt Dinge, die ich nicht kontrollieren kann, und ich glaube, zum Teil bedeutet Erwachsensein, diese Dinge akzeptieren zu lernen. Ich finde das nicht schön. Um ganz ehrlich zu sein, ich scheiße mir dabei vor Angst fast die Hosen voll. Aber welche Wahl habe ich denn? Entweder mache ich die Angst zum Mittelpunkt meines Lebens, oder …«
»… du lebst einfach weiter wie bisher«, unterbricht Eve sie mit vor Sarkasmus triefender Stimme.
»Okay, ich höre ja schon auf. Ich fange an, mich zu wiederholen.«
»Deine und meine Situation sind überhaupt nicht vergleichbar«, erklärt Eve entschieden.
»Finde ich schon.«
»Ich scheiße auf das, was du findest«, sagt Eve wütend, schiebt Joanne zur Seite und läuft die Treppe hinauf.
»Eve!«
»Geh heim, Joanne!«
»Laß mich dir doch helfen«, bittet Joanne. Sie folgt Eve die Treppe hinauf und in das größere der beiden nach vorn gelegenen Zimmer. Brian benutzt diesen Raum als Arbeitszimmer. »Mein Gott, was ist denn hier passiert?«
Erschrocken starrt Joanne auf das einst aufgeräumte, ordentliche Zimmer, das jetzt alle Anzeichen von Verwüstung zeigt. Über den Boden verteilt liegen Bücher herum; der Schreibtischstuhl ist umgeworfen; auf dem großen Teppich stapeln sich Papiere und Aktenordner, deren Inhalt wahllos verstreut wurde. »Was ist denn hier passiert?« wiederholt Joanne flüsternd.
»Hurricane Eve«, sagt Eve, lächelt und fegt mit der Hand die letzten Blätter Papier von Brians Schreibtisch, so daß auch sie auf
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