Ein mörderischer Sommer
Nähe hören kann, was sie jetzt sagen wird. »Mom, du weißt doch, daß das gegen die Regeln ist. Alle schauen mich an, als würden sie erwarten, daß jemand gestorben ist oder so. Was soll ich ihnen denn sagen?«
»Sag ihnen, es tut dir leid, sie enttäuschen zu müssen, aber zumindest was diesen Augenblick betrifft, bin ich am Leben.«
»Mutter!« Es folgt eine lange Pause. Dann: »Hast du etwas getrunken?«
Joanne lacht lauthals auf. »Nein! Muß ich denn betrunken sein, um mit meinen Töchtern sprechen zu wollen, die ich sehr liebe?«
»Also, auf jeden Fall«, stottert Robin, »ist es gegen die Regeln.«
»Sag ihnen einfach, es hat sich etwas geändert mit dem Abholen, und ich mußte anrufen, weil ich mir nicht sicher war, ob ein Brief, den ich geschrieben hatte, rechtzeitig ankommen würde.«
»Ziemlich lahm, Mom«, bemerkt Robin.
»Na, dann denk du dir etwas Besseres aus.«
Eine weitere lange Pause. »Wie wäre es denn, wenn ich ihnen sagen würde, du und Dad seid wieder zusammen?«
Joanne schweigt.
»Seid ihr wieder zusammen, Mom? Hast du deswegen angerufen?«
Schweigen. Dann: »Nein.« Wieder Schweigen.
»Ich liebe dich, Mom.«
»Ich liebe dich auch, meine Süße.«
»Lulu steht da und meckert, weil sie den Film versäumt. Sprich am besten mal mit ihr.«
»Auf Wiedersehen, Kleines«, sagt Joanne, während Robin den Hörer an ihre jüngere Schwester weiterreicht. »Was ist denn los?« quengelt Lulu.
»Gar nichts, Schatz, ich habe dich nur vermißt und wollte mit dir sprechen.«
»Das darfst du doch nicht!«
»Ja, ich weiß.«
»Ich verpasse den Film, Mom. Mrs. Saunders hat uns an der spannendsten Stelle rausgeholt.«
»War es denn ein schöner Sommer?«
»Ja, es war toll!« Joanne kann den Ausdruck verwirrter Ungeduld in Lulus Gesicht förmlich sehen.
»Glaubst du, du wirst in ein paar Wochen den Einstieg in den Schulalltag schaffen?«
»Ich glaube schon. Mom, können wir uns darüber nicht unterhalten, wenn ich wieder zu Hause bin?«
»Natürlich«, sagt Joanne hastig. »Entschuldige, Schatz. Geh zurück und schau dir den Film weiter an.«
»Geht es Daddy gut?«
»Ja, es geht ihm sehr gut.«
»Und deinem Großvater?«
Die Frage kommt für Joanne völlig unerwartet. »Er ist gestorben«, sagt sie schließlich, weil sie nicht weiß, was sie sonst antworten sollte.
»Was? Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Joanne sieht förmlich, wie Lulu sich an ihre Schwester und alle anderen Personen wendet, die mit ihnen im Raum sind. »Moms Großvater ist gestorben!«
»Was?« hört Joanne Robins Stimme im Hintergrund. Ein leises Schleifgeräusch, dann ist wieder Robin am Telefon. »Urgroßvater ist gestorben?« wiederholt sie. Zum erstenmal setzt sie Joannes Großvater in Beziehung zu sich selbst. »Wann denn?«
»Vor einer Woche … vielleicht ist es auch schon zehn Tage her. Mir geht es gut«, fügt Joanne schnell hinzu. »Jetzt kannst du ihnen ja sagen, daß jemand gestorben ist«, sagt sie und muß ein Kichern unterdrücken.
»Mutter!«
»Geht zurück zu eurem Film, Liebling. Euer Vater wird euch nächste Woche vom Bus abholen. Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch«, sagt Robin.
»Ich liebe dich«, hört sie Lulu schreien.
»Ich liebe dich, Engelchen«, flüstert Joanne.
»Mrs. Hunter?« Es ist eine andere, ältere Stimme.
»Ja?«
»Hier ist Mrs. Saunders. Ich wollte nur sagen, daß mir das mit Ihrem Großvater sehr leid tut.«
»Danke«, erwidert Joanne. Dann legt sie auf.
Sie geht zur gläsernen Schiebetür und starrt in die Nacht hinaus. Langsam, ohne irgend etwas zu beabsichtigen, öffnet sie beide Schlösser und schiebt die Tür auf. Sofort umgibt sie warme Nachtluft, zieht sie hinaus auf die Terrasse, als führe der Arm eines Liebhabers sie zum Küssen in eine abgelegene Ecke.
Sie starrt auf die offene Baugrube, die den größten Teil ihres Gartens ausmacht. Eine wunderbare Nacht zum Schwimmen, denkt sie und geht langsam die Stufen hinab, die noch immer auf die letzte Lackschicht warten. Sie stellt sich vor, wie sie graziös durchs Wasser gleitet. Der Pool ist groß genug, um darin richtig schwimmen zu können, nicht nur zum Herumplanschen geeignet. Allerdings – herumplanschen kann sie am besten. Sie nimmt sich vor, Schwimmunterricht zu nehmen, wenn sie den Sommer überlebt. Vielleicht werde ich sogar wieder mit dem Tennisspielen anfangen, denkt sie, während sie sich dem Rand des Pools nähert. In der Dunkelheit versucht sie, den Tennisschläger
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