Ein mörderischer Sommer
bitte … Können wir nicht ein einziges Mal ohne Streitereien essen?« Es klang mehr wie eine Bitte als wie eine Frage. »Ihr seid doch Schwestern; ihr seid alles, was ihr habt …«
»Da hätte ich lieber überhaupt nichts!« Wütend schob sich Robin eine Gabel voll Spaghetti in den Mund.
»Ha, und ich hätte es am liebsten, wenn du tot wärst!« brüllte Lulu.
»Ruhe!« schrie Joanne. Sie hatte einen Augenblick lang die Beherrschung verloren. »Ruhe«, wiederholte sie leiser. »Jetzt laßt uns in Ruhe zu Ende essen. Ich will nichts mehr hören.« Sie fühlte ihre Augen sich mit Tränen füllen und wischte sie hastig weg. »Ihr müßt mir helfen, Mädchen. Es ist zur Zeit alles sehr schwierig für mich. Für euch auch, ich weiß. Ich verlange ja nicht, daß ihr auf Zehenspitzen um mich herumschleicht. Ich bitte euch nur, lieb zueinander zu sein. Zumindest beim Essen.«
»Sie sagt, ich bin dick. Ich bin nicht dick!« rief Lulu.
»Und doch bist du dick!« kam sofort die Antwort.
»Sie ist nicht dick!« sagte Joanne. »Und ich warne euch beide: Wenn ihr noch ein einziges Wort sagt, bevor ich es euch erlaubt habe, bekommt ihr übers Wochenende Hausarrest.« Schweigend beendeten sie die Mahlzeit. »Ich möchte noch mit dir sprechen«, sagte Joanne zu Robin, während sie den Tisch abräumte. »Du kannst gehen, Lulu.«
»Ich will zuhören.«
»Lulu, du gehst jetzt sofort in dein Zimmer!« rief Joanne. Langsam, ganz langsam ging ihre jüngere Tochter aus dem Raum. »Dein Mathematiklehrer hat heute angerufen«, begann sie, den Blick auf die schweigende Robin gerichtet. »Mr. Avery ist nicht gerade glücklich über die Leistungen, die du in letzter Zeit bringst. Er hat mir erzählt, daß du den Unterricht schwänzt.«
»Ich habe nicht …«, protestierte Robin, brach dann aber ab. »Die Stunden sind so langweilig, Mom.«
»Es ist mir egal, ob sie langweilig sind. Du kannst es dir eben nicht aussuchen.« Behutsam wählte sie ihre nächsten Worte. »Er sagte, daß du bei der letzten Mathematikschulaufgabe nicht gerade gut abgeschnitten hast.«
»Ich habe bei der letzten Mathematikarbeit eine Sechs bekommen!«
»Ja, genau das hat er gesagt. Und er hat auch gesagt, daß es überhaupt keinen Grund dafür gab, daß du so versagt hast, weil du nämlich ein sehr intelligentes Mädchen bist. Und er meinte, selbst wenn du im Unterricht erscheinst, paßt du in letzter Zeit nicht mehr auf.«
»Ich muß an so vieles denken.«
Joanne erwiderte nichts. Sie fühlte sich verantwortlich für die Probleme ihrer Tochter und nahm alle Schuld auf sich. Sie hatten es alle sehr schwer gehabt in letzter Zeit, das wußte sie. »Nur noch einen Monat, dann ist die Schule aus. So lange kannst du dich doch zusammenreißen, oder?«
»Ich werde brav sein«, sagte Robin. »Kann ich mich jetzt fertigmachen? In einer Stunde kommt Scott.«
Joanne nickte; sie blieb sitzen. Einige Sekunden später hörte sie Robins Stimme durchs Haus hallen. »Fettmops!«
»Verdammtes Arschloch!« lautete Lulus prompte Erwiderung. Joanne legte die Stirn auf den Tisch, leblos hingen die Arme zu beiden Seiten ihres Körpers herab. Oben wurden krachend Türen zugeschlagen.
Scott Peterson war mager und nicht sehr groß – der Typ aller Rockstars, die im Augenblick ›in‹ waren –, eine wenig eindrucksvolle Gestalt mit kurzgeschnittenen dunkelblonden Haaren. Keine rosa- oder orangefarbenen Strähnen – war das passé? – und weder Ohrringe noch Lidschatten. Er trug enge weiße Jeans und ein extra weites rotes Hemd. Obwohl sein Gesicht blaß und schmal war, wirkte es nicht ausgemergelter, als es der momentanen Norm entsprach. Er ähnelte eher einem Automechaniker als einem zukünftigen Elvis Presley – aber er war ja kaum alt genug, um sich an Elvis Presley überhaupt erinnern zu können.
»Scott, das ist meine Mutter«, hörte Joanne ihre Tochter sagen.
»Hi«, antworteten Joanne und der Junge gleichzeitig.
Scott Peterson starrte sie an, aber ihr wurde klar, daß er sie nicht sah – nicht sehen konnte. Er sah nicht eine Person, sondern Robins Mutter.
»Ahem.« Lulu stand am Fuß der Treppe. Nervös spielte sie mit einer Strähne ihres langen braunen Haars.
»Das ist meine Schwester«, stellte Robin sie widerwillig vor. »Lulu.«
»Guter Name«, meinte Scott lächelnd. »Little Lulu and the Lunettes. Geiler Name für eine Gruppe.«
Schweigend stand Lulu da, das Gesicht in einem Ausdruck der Bewunderung erstarrt.
»Wir gehen jetzt«,
Weitere Kostenlose Bücher