Ein mörderischer Sommer
sehen, daß sie den Tränen nahe war. »Wie heißen Sie?« fragte sie, mehr um den drohenden Weinkrampf hinauszuzögern als aus wirklichem Interesse. Sie schlug ein Bein übers andere und versuchte, dabei mit der Haut nicht an das klebrige Vinyl zu kommen.
»Lesley. Lesley Fraser. Und Sie?«
»Joanne Hunter.«
Wieder nickte Lesley Fraser und rieb sich nervös die Hände. »Ich habe drei kleine Kinder, deshalb bin ich so besorgt. Sie sind noch so klein, wissen Sie. Wenn sie mutterlos zurückbleiben …«
»Jetzt aber mal stop!« unterbrach Joanne sie hastig. »Wer sagt denn, daß hier irgend jemand mutterlos zurückbleiben muß? Selbst wenn es ganz schlimm kommen sollte und sie etwas finden, was da nicht sein dürfte, heißt das doch noch lange nicht, daß Sie sterben werden.« Das Bild ihrer Mutter blitzte vor ihr auf. »Was immer es auch ist, es wird rausoperiett, und dann sind Sie wieder gesund. Haben Sie nicht gelesen, welche unglaublichen Fortschritte die Medizin in den letzten paar Jahren gemacht hat? Hier in den Zeitschriften steht alles darüber.« Sie nahm die neueste Ausgabe des Magazins Time vom Tisch und schlug sie auf. Sie konnte sich nicht erinnern, ob es dieses Heft gewesen war, in dem irgend etwas über die Wunder der Medizin gestanden hatte, oder ein anderes.
»Ziemlich grauslig, was?«, sagte Lesley Fraser und machte eine Kopfbewegung in Richtung auf die Zeitschrift.
»Grauslig?« fragte Joanne. Sie wußte nicht, was gemeint war, aber dann fiel ihr Blick auf die Seite, die sie gerade aufgeschlagen hatte. ›Verbrechen‹, lautete die Vorzeile, ›Der Vorstadtwürger von Long Island‹ die Schlagzeile. Schnell klappte sie das Magazin zu und warf es auf den Tisch zurück.
»Ach ja«, seufzte Lesley Fraser und versuchte zu lächeln. »Ich glaube, wenn dich das eine nicht erwischt, erwischt dich eben das andere. Da sieht man mal wieder, wie wenig Kontrolle wir eigentlich über unser Leben haben.«
Joanne hatte keine Lust, sich mit den Anspielungen, die diese Bemerkung beinhaltete, auseinanderzusetzen. Statt dessen sah sie sich nervös in der Runde der anderen Patienten in dem überfüllten Wartezimmer um. Lauter angespannte Gesichter. »Die Wahrscheinlichkeit, daß es uns trifft, ist nicht groß«, sagte sie zu der jungen Frau, die neben ihr saß.
»Ich weiß, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist«, erwiderte Lesley Fraser. »Meine Mutter starb an Krebs.«
»Meine auch«, sagte Joanne automatisch. Erst dann fiel ihr ein, daß dies nicht gerade tröstlich klang. »Trotzdem, die Wahrscheinlichkeit ist nicht groß.«
»Und wenn es mich nicht körperlich tötet, finanziell würde es uns auf jeden Fall ruinieren«, fuhr Lesley Fraser fort. »Wir haben nicht viel Geld. Wie soll man mit drei Kindern sparen? Ich habe keine Ahnung, wie wir die Arztrechnungen bezahlen sollen.«
»Machen Sie sich doch erst mal um eine Sache Gedanken«, empfahl Joanne ihr. Ein leichtes Lächeln huschte über den Mund der Frau, dann schossen ihr plötzlich die Tränen aus den Augen.
»Ich habe solche Angst«, flüsterte sie.
Joanne langte hinüber und nahm schweigend Lesley Frasers Hand.
»Lesley Fraser«, rief eine junge Frau, die über ihrer weißen Schwesterntracht einen grünen Laborkittel trug. Sie stand an der Tür und versuchte, etwas auf einer Tabelle zu entziffern, die sie sich mit ausgestrecktem Arm vor die Augen hielt.
»Hier«, antwortete Lesley und hob die Hand, als ob sie in der Schule wäre.
»Hier rein, bitte«, wies die Schwester sie an und öffnete eine Tür.
Lesley Fraser sprang hastig auf, aber dann schien sie plötzlich wie gelähmt.
»Viel Glück«, sagte Joanne.
Die junge Frau nickte. »Ich hoffe, daß mit Ihrer Freundin alles in Ordnung kommt.« Im nächsten Augenblick war sie in dem Röntgenraum verschwunden.
Gedankenverloren besah Joanne sich die Titelbilder der Illustrierten auf dem Tisch neben ihr, sehr darauf bedacht, die letzte Ausgabe von Time dabei zu überspringen. Schließlich wählte sie ein Newsweek-Heft, das sie schon einmal durchgeblättert hatte. Sie überflog die Seiten und entdeckte, daß in dieser Zeitschrift tatsächlich ein Artikel über einige kürzlich erfolgte Durchbrüche auf dem Gebiet der Medizin stand. Sie versuchte ihn zu lesen, aber im Grunde interessierten sie diese medizinischen Wunder überhaupt nicht. Sie hatten sich zu spät ereignet, um den Menschen, die sie geliebt hatte, noch helfen zu können. Sie wollte ja optimistisch sein, aber die Erinnerung an
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