Ein mörderischer Sommer
gut. Bis Dienstag werde ich wohl überleben.«
»Warum legst du dich nicht eine Weile hin?«
Auf diesen Vorschlag ging Eve erstaunlich bereitwillig ein. Joanne half ihr die Treppe zum Schlafzimmer hinauf und schlug die Decke auf dem großen Bett zurück. Eve kuschelte sich hinein. »Kann ich dir noch irgend etwas bringen, bevor ich gehe?«
Eve schlug ein Auge auf. »Da liegt irgendwo People rum, die Zeitschrift. Die kannst du mir aufs Bett legen.«
Joanne sah sich um, konnte das Heft aber nicht finden. »Hast du eine neue Putzfrau?« fragte sie. »Dieses Zimmer habe ich noch nie derart aufgeräumt gesehen.«
»Meine Mutter hat saubergemacht«, erklärte Eve. »Vielleicht hat Brian People mitgenommen. Schau mal in seinem Arbeitszimmer nach.«
Joanne ging hinunter und warf kurz einen Blick in Brians Arbeitszimmer; sie war neugierig, aber sie schnüffelte nicht gerne. Wann Brian hier wohl arbeitet? fragte sie sich. Er war so selten daheim. Auf dem großen Schreibtisch lagen viele Papiere aufgehäuft – Polizeiakten und auch einige Bücher, aber keine Zeitschrift. Einige Sekunden lang dachte Joanne daran, Brian einen Zettel mit der Bitte um Anruf dazulassen, ließ es dann aber doch bleiben. Eve hatte gesagt, sie werde ihrem Mann von den Anrufen erzählen, und wahrscheinlich hatte sie es schon längst getan. Offensichtlich sah er keinen Grund zur Besorgnis, sonst hätte er sich schon längst bei ihr gemeldet. Eve sagte es ja andauernd: Jeder bekam obszöne Anrufe. Sie brauchte sich überhaupt keine Sorgen zu machen. Sie verließ den Arbeitsraum – trotz allem besorgt.
Das kleine Zimmer auf der anderen Seite der Diele hatten Eve und Brian ursprünglich als Kinderzimmer geplant. Joanne öffnete die Tür und sah hinein. Vor sechs Monaten war es ein Traum aus Weiß und Rosa gewesen, eingerichtet für das kleine Mädchen, das im Mai hatte geboren werden sollen. Nach vielen frustrierenden Jahren hatte sich endlich Nachwuchs angemeldet, man hatte einen Namen ausgewählt und alles Nötige gekauft. Jetzt war das Zimmer leer, die Vorhänge waren abgenommen worden, der Schleier von der Wiege entfernt. Joanne wollte die Tür schon wieder schließen, da sah sie das People -Magazin auf dem Boden unter den vorhanglosen Fenstern liegen. Auf Zehenspitzen huschte sie über den rosa Teppichboden, hob es auf und ging in die Diele zurück. Wieso lag die Zeitschrift hier? Ging Eve manchmal ins Kinderzimmer, um dort zu grübeln? Wenn ja, dann war es höchste Zeit, etwas zu unternehmen mit diesem Raum. Joanne beschloß, es Eve gegenüber so sanft wie möglich anzusprechen. Aber als sie ins Schlafzimmer trat, sah sie, daß ihre Freundin schon eingeschlafen war. Behutsam legte sie die Zeitschrift am Fuß des Betts nieder und verließ so leise sie konnte das Haus.
13
»Was haben Sie denn für Beschwerden?« fragte die kleine drahtige Frau mit den kastanienbraunen Strähnchen im sowieso schon dunklen Haar unsicher. Joanne schätzte das Alter der Frau auf dreißig, aber es war schwer zu sagen, denn sie hatte eines jener Gesichter, die gleichzeitig zu alt und zu jung wirken. Sie registrierte, daß die Frau einen einfachen goldenen Ring am Ringfinger ihrer zitternden linken Hand trug, und ließ die Zeitschrift in den Schoß sinken.
»Ich warte auf eine Freundin.« Joanne lächelte höflich, begierig aufs Weiterlesen, obwohl sie in Wahrheit viel zu unruhig war, um sich in die Zeitschrift vertiefen zu können.
»Was ist denn los mit ihr?« fragte die Frau beharrlich weiter. Offensichtlich wollte sie sich unbedingt unterhalten, obwohl ihre Stimme leicht zitterte.
»Die Ärzte wissen es nicht«, antwortete Joanne. »Sie wird jetzt geröntgt.«
»Ich warte gerade darauf, geröntgt zu werden«, erzählte die junge Frau nickend. Sie wirkte unglaublich zerbrechlich. »Irgend etwas mit meinem Magen stimmt nicht«, fuhr sie beinahe flüsternd fort. »Ich habe ziemliche Angst.«
»Ich bin überzeugt, daß alles in Ordnung ist mit Ihnen«, sagte Joanne. Sie hörte Karen Palmers Stimme bei diesen Worten und merkte plötzlich, wie platitüdenhaft sie waren.
»Ich weiß nicht«, erwiderte die Frau. »Da ist so ein … so etwas wie ein Klumpen …«
Joanne legte ihre Illustrierte auf den mit Zeitschriften überhäuften Resopaltisch neben dem grünen Vinyl-Sofa, auf dem sie saß. Sie dachte an Eve. »Ich bin ganz sicher, daß Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen«, hörte sie sich sagen. Die Frau versuchte zu lächeln, aber Joanne konnte
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