Ein mörderischer Sommer
Zornestränen aus. Joanne fuhr rasch an den Straßenrand. Noch nie hatte sie Eve weinen sehen. Sie hatte sie glücklich gesehen, traurig, aufgeregt, frustriert und wütend, aber nie hatte sie Eve weinen sehen. Selbst nach dem Verlust des Babys hatte sie sich kein Selbstmitleid erlaubt, war sofort in ihren hektischen Tagesablauf zurückgekehrt – mit einem barschen: »So ist das Leben nun mal.«
»Eve …«
»Warum kann mir denn niemand sagen, was mit mir los ist?« flehte sie. »Du kennst mich besser als jeder andere, Himmel noch mal. Du weißt doch, daß ich kein Hypochonder bin. Du weißt doch, wenn ich sage, es tut weh, dann tut es mir wirklich weh. Ich war doch diejenige, die am Anfang gesagt hat, daß alles in Ordnung ist! Ich war völlig überzeugt, daß Brian und meine Mutter überreagierten.«
»Ja, ich erinnere mich …«
»Und jetzt, wo die Schmerzen wirklich schlimm sind, wo nichts, ich schwöre es, nichts in meinen Körper mehr richtig funktioniert, warum sagt jetzt jeder, es ist alles in Ordnung?«
»Wer hat dir denn noch gesagt, daß alles in Ordnung ist?«
»Na ja, keiner der Ärzte war bis jetzt so deutlich wie dieser Affe, aber alle haben sie Andeutungen gemacht. Du weißt doch, wie zartfühlend Ärzte sind. Ich habe alle diese Bluttests durchführen lassen und bin bei all den Spezialisten gewesen, und jetzt sagt Brian …«
»Was ist mit Brian?«
»Du kennst ja Brian, er ist so naiv. Er meint, wenn die Ärzte nichts finden, kann es nichts Ernsthaftes sein, also soll man es ignorieren. Etwas ignorieren, das mich daran hindert, richtig zu essen oder richtig zu schlafen oder richtig zu scheißen … etwas zu ignorieren, das es mir unmöglich macht, länger als fünf Minuten aufzusein! Geh zum Friseur! Kauf dir ein paar neue Kleider! Wenn ich ein Mann wäre, und es wäre mein kostbarer kleiner Penis, der mir Beschwerden macht, ich würde nicht einfach so abgefertigt werden! Dann würden sie nicht zu mir sagen, ich soll zum Friseur gehen!« Sie sah sich um, erstaunt und verwirrt. »Warum haben wir angehalten?«
Joanne ließ den Motor sofort wieder an und fuhr auf die Straße hinaus. »Wir gehen einfach so lange zu Ärzten, bis wir rausgefunden haben, was los ist«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich kenne dich. Ich weiß, wenn du dich beklagst, dann ist es, weil etwas nicht stimmt. Wir versuchen es so lange, bis wir wissen, was es ist.«
»Dann könnte ich schon längst tot sein«, sagte Eve. Plötzlich lachte Joanne laut auf. »Du findest etwas Lustiges an dieser Vorstellung, oder?« fragte Eve und wischte sich die letzten Tränen weg.
»Nein.« Joanne lächelte. »Natürlich nicht. Nur, wir führten dieses Gespräch genau anders herum an dem Nachmittag, als ich dich zum erstenmal ins Krankenhaus fuhr. Als ich die Zeitung an der Windschutzscheibe fand und du die Polizei anriefst und sie sagten, sie könnten nichts machen, bis der Kerl wirklich zuschlägt, und ich sagte: ›Dann könne ich schon längst tot sein‹ oder so was Ähnliches. Kannst du dich nicht erinnern?«
Eve schüttelte den Kopf. »Hast du in letzter Zeit wieder Anrufe erhalten?« fragte sie. Joanne sah, daß sie nur widerwillig das Thema wechselte, die Aufmerksamkeit von sich selbst weglenkte.
»Zwei«, antwortete Joanne. »Ich habe aufgelegt, sobald ich die Stimme hörte.«
»Das ist gut«, meinte Eve zerstreut.
»Ich glaube nicht, daß es ein harmloser Idiot ist«, wagte Joanne sich langsam vor. Zum erstenmal äußerte sie ihre tiefsten Ängste laut. »Ich glaube wirklich, daß … daß es der ist, der diese Frauen umgebracht hat. Ich glaube, daß er es diesmal auskosten will, daß er mich beobachtet, mit mir spielt … du weißt schon, wie eine Katze mit einer Maus spielt, bevor sie sie tötet.«
»Also komm, Joanne.« Eve lachte. »Findest du nicht, daß du eine Spur zu melodramatisch bist?«
Joanne zuckte mit den Achseln. Sie fühlte sich ein bißchen verletzt. Sie hatte Eve deren hochdramatische Szene gegönnt – war es zuviel verlangt, wenn sie für sich das gleiche in Anspruch nahm? Aber sie schwieg.
»Sag mal, Joanne«, forderte Eve sie mit einer sehr nüchtern klingenden Stimme auf, »ist eigentlich jemals irgend jemand mit dir im Haus, wenn du diese Anrufe bekommst?«
Joanne mußte kurz nachdenken. »Normalerweise bin ich allein, zumindest allein im Zimmer, wenn er anruft. Außer in der einen Nacht, als Lulu in meinem Bett schlief.«
»Aber sie hat nichts gehört.« Es war eine Feststellung,
Weitere Kostenlose Bücher