Ein mörderischer Sommer
vergessen, aber sie schwört, bei ihr sind sie nicht. Sie sagt, ihre Mutter hat das ganze Haus nach ihnen abgesucht und sie nicht gefunden. Ich habe einen Schlosser kommen lassen, aber der meinte, es würde ein Vermögen kosten, alle Schlösser noch mal auswechseln zu lassen, vor allem mit den ganzen Riegeln, und da niemand wissen kann, wem die Schlüssel gehören – es ist keine Adressenangabe oder irgendwas dran –, habe ich beschlossen, es gut sein zu lassen. Ich habe ja die Alarmanlage, falls jemand versuchen sollte, reinzukommen.« Sie öffnet die Tür, geht schnell zu dem Alarmkasten in der Diele und drückt die entsprechenden Knöpfe. Das grüne Licht ganz unten an dem Kästchen verlischt, der Alarm ist ausgeschaltet. »Jedesmal, wenn ich das mache, bin ich nervös«, gesteht sie.
»Du machst es sehr gut.« Er lächelt. Joanne starrt ihn erwartungsvoll an. Will er ihr einen Gutenachtkuß geben? Soll sie ihn gewähren lassen? Ist es gut, sich nach dem ersten Rendezvous zu küssen, wenn der fragliche Mann der seit zwanzig Jahren Angetraute ist? »Es war ein wunderschöner Abend, Joanne«, sagt er, versetzt sie mit diesen Worten zurück in frühere Zeiten. Und Joanne merkt, daß er es ernst meint, daß er es nicht einfach nur sagt, um ihr eine Freude zu machen.
»Für mich auch.«
»Danke.«
»Für was denn?«
»Fürs Zuhören. Ich glaube, ich habe wirklich jemanden gebraucht, mit dem ich reden konnte.«
»Ich bin immer da«, sagt sie. Eine leise Stimme ertönt in ihrem Inneren: Das ist es, Joanne, spiel die Spröde, zier dich!
»Ich würde es gerne wieder mal machen.« Joanne will schon fragen, wann, stoppt sich aber noch rechtzeitig. »Ich rufe dich an.« Er beugt sich vor und küßt sie flüchtig auf die Wange.
Ich liebe dich – lautlos bewegen sich ihre Lippen, während sie ihm nachsieht, wie er in seinen Wagen steigt und losfährt.
Es ist fast zehn Uhr, als Joanne am nächsten Morgen die Augen aufschlägt. Sie braucht einige Sekunden, um ganz wach zu werden, sich daran zu erinnern, daß sie allein ist, daß die Mädchen im Sommerlager sind. Sie überlegt, was Paul wohl gerade macht, ob er schon wach ist. Sie muß aufhören, zu optimistisch zu sein, zuviel in das, was er gestern abend gesagt hat, hineinzuinterpretieren.
Sie setzt sich auf und streckt sich. Trotz ihrer eigenen Warnungen hat sie zum erstenmal seit Monaten ein gutes Gefühl in bezug auf die Zukunft. Paul wird zurückkommen, sagt sie sich, schlägt die Decke zurück und schwingt die Beine über die Bettkante. Es ist nur eine Frage der Zeit, und sie wird ihm so viel Zeit geben, wie er braucht. Dafür hat er ihr Hoffnung gegeben.
Noch ein wenig steif in den Gelenken, geht sie hinüber zum Schlafzimmerfenster. Wieder ein schöner Tag, denkt sie, während sie die Vorhänge zurückzieht. Sie starrt in den Garten hinaus.
Er steht neben dem Pool. Groß, mager, sein dunkles, lockiges Haar reicht einige Zentimeter über den Hemdkragen hinaus, seine Hände hat er überheblich in die Hüften gestemmt, er kehrt ihr den Rücken zu, er steht auf den zartrosafarbenen Steinplatten, die zu legen er mitgeholfen hat, und starrt in die große leere Grube, die zu graben er mitgeholfen hat. Was tut er da? wundert sie sich, läßt den Vorhang los und bewegt sich vom Fenster weg, zur Wand. Sie spürt, wie ihr Atem gegen ihre Brust strömt.
Sofort rennt sie in ihren begehbaren Schrank, zieht eine ausgebeulte Baumwollhose an, steckt das T-Shirt, in dem sie geschlafen hat, in die Hose, erinnert sich erst an der Treppe, daß sie ja keinen BH trägt. An dem blaßrosafarbenen T-Shirt zeichnen sich ihre Brustwarzen ab. Sie überlegt, ob sie zurücklaufen soll, entscheidet sich dagegen und geht in die Küche. Erst vor der gläsernen Schiebetür fällt ihr ein, daß sie keine Ahnung hat, was sie tun soll. Hat sie vor, den Mann zur Rede zu stellen? Will sie eine endgültige Aussprache? He, Sie da in meinem Garten, sind Sie das, der mich ständig anruft? Sind Sie hier, um mich zu ermorden? Was machen Sie hier? Oder noch besser: Was mache ich hier?
Sie tritt ein paar Schritte von der Glastür weg, aber es ist schon zu spät. Er hat sie gesehen. Er lächelt ihr zu. Ihr wird klar, daß er darauf wartet, daß sie kommt. Langsam, wie in Trance, entriegelt Joanne die beiden Schlösser an der Tür. Sie schiebt die Glasscheibe zur Seite. Erst jetzt wird ihr bewußt, daß sie vergessen hat, den Alarm abzuschalten. Sie weiß, daß es bereits zu spät ist. Schrill
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