Ein mörderischer Sommer
Hals, um zu sehen, wer noch alles da ist. »Ich sehe ihn nirgends«, sagt sie und meint damit offensichtlich Paul.
»Wahrscheinlich war er es gar nicht«, erwidert Joanne, aber instinktiv weiß sie, daß er es war. »Paul hatte nie viel fürs Theater übrig …«
»Ich konnte nicht sehen, mit wem er war«, sagt Eve, während das Licht ausgeht und das Orchester zu spielen beginnt.
Die Musik ist laut, der Rhythmus mitreißend. Das ganze Publikum scheint sich darin zu wiegen, die Erwartung steigt. Joanne fühlt den Klang der Musik immer intensiver werden; ihre Füße klopfen den Takt mit. Sie sieht, wie sich der Vorhang teilt und ein überwältigendes Bühnenbild zum Vorschein kommt. Die Kostüme sind unglaublich, Joanne bleibt fast die Luft weg. Sie hört Stimmen, die sich in klarer, fröhlicher Zuversicht erheben. Aber alles, was sie hört, sieht und denkt, ist: Ich konnte nicht sehen, mit wem er war.
Warum ist sie nicht gleich darauf gekommen? Wenn Paul hier ist, dann niemals allein. Also mit wem? Wahrscheinlich mit einem Klienten. Bitte, mach, daß es ein Klient ist. Vielleicht mit einem Freund. Mach, daß es ein Freund ist, keine Freundin. Am wahrscheinlichsten aber mit einer Frau, die er ausführt. Am allerwahrscheinlichsten mit einer jungen, attraktiven. Höchstwahrscheinlich mit der kleinen Judy, Nachname unbekannt.
Ich konnte nicht sehen, mit wem er war.
Joanne versucht sich auf die grandios erleuchtete Bühne zu konzentrieren. Sie fragt sich, wie die viele Theaterschminke und das starke Licht sich wohl auf die Haut der Tänzerinnen und Sängerinnen auswirken. Sie schielt zu Eve hinüber. Auf ihrem Gesicht liegt das Silber und Gold, auf ihrem Haar das Eisblau der Bühnenbeleuchtung. Ihre Augen sind schwarz und leer.
Wieder sieht Joanne nichts, fühlt nichts.
Ich konnte nicht sehen, mit wem er war.
Plötzlich ist die Bühne in helles, blendendes Zitronengelb getaucht. Joanne schließt die Augen vor diesem Licht, das wie die Sonne blendet. Sie fühlt die Hitze des runden gelben Balls. Sie wirft wieder einen Blick zu Eve hinüber und sieht, daß Eves Gesicht in dem warmen Sonnenlicht ganz besonders kalt wirkt, skelettartig treten ihre Züge hervor, lassen sie beinahe grausam aussehen. Gelb hat mir noch nie gestanden, hört sie Eve sagen, aber Eve sagt nichts. Jetzt brennt die Sonne auf Joannes Haut, auf ihrer Stirn bricht Schweiß aus. Die Sonne ist zu heiß, denkt sie; sie würde gerne an die frische Luft gehen. Bitte schaltet die Sonne ab! In dem Versuch, ihre wachsende Angst zu bekämpfen, konzentriert Joanne all ihre Aufmerksamkeit auf die Bühne und sieht, daß die Frauen dort oben jetzt nackt sind – waren sie es schon die ganze Zeit? –, bedeckt nur von den irisierenden Lichtstreifen.
Plötzlich fällt der Vorhang. Der erste Akt ist vorbei. Das Licht im Zuschauerraum geht wieder an. Das Publikum bricht in lang anhaltenden Beifall aus. Um sie herum stehen alle Leute auf, um sich die Beine zu vertreten. »Ich kann gar nicht glauben, wie schnell das ging«, hört Joanne sich sagen. Ihr ist bewußt, daß sie die meiste Zeit mit den Gedanken ganz woanders war.
»Soll das ein Witz sein?« fragt Eve. »Das war der längste beschissene erste Akt, den ich jemals durchsessen habe. Sag bloß nicht, dir hat das gefallen! Soviel zu den Empfehlungen des lieben Onkel Doktors. Komm, wir gehen raus.«
»Ich glaube, ich bleibe lieber sitzen«, sagt Joanne und denkt daran, daß sie sich noch vor wenigen Minuten nichts sehnlicher gewünscht hat, als an die frische Luft zu kommen.
»Wir gehen raus«, wiederholt Eve. Damit ist die Diskussion beendet.
Auf dem Weg ins Foyer hört Joanne Worte wie ›innovativ‹ und ›originell‹, ›atemberaubend‹ und ›wunderbar‹. Nur Eves Mund drückt beständige Verbiestertheit aus. »Eine entsetzliche Aufführung«, sagt sie, laut genug, daß jeder, an dem sie vorbeigehen, es hören kann. »Das Schlechteste, was ich seit Jahren gesehen habe.« Sie sind im Foyer. »Da ist er ja. Es ist Paul.« Joanne sieht sich um. Paul steht ganz allein an der tief roten Wand. »Willst du ihn nicht begrüßen?« Bevor Joanne antworten oder widersprechen kann, hebt Eve eine Hand und beginnt zu winken. Paul sieht es, sie gibt ihm ein Zeichen, daß er zu ihnen kommen soll. »Da kommt er schon.«
Joanne holt tief Luft. Ihr ist leicht übel. Sie spürt, wie die Leute neben ihr sich umstellen, um dem Neuankömmling Platz zu machen, sie weiß, daß Paul jetzt neben ihr steht. Widerwillig
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