Ein mörderischer Sommer
den ganzen Tag gekocht.«
»Den ganzen Tag?«
»Na ja, fast den ganzen Tag. Am Nachmittag habe ich mich ein paar Stunden losgeeist und meinen Großvater besucht.« Steve Henry sieht sie interessiert an. »Er ist fünfundneunzig«, fährt sie fort, obwohl sie nicht weiß, warum sie ihm das erzählt, aber es tut gut, seine Aufmerksamkeit von ihr weg zu lenken. »Er lebt in einem Pflegeheim. Im Baycrest-Pflegeheim, drüben in der …«
»Ich weiß, wo es ist.«
»Ja?«
Er nickt und nippt an seinem Drink.
»Ich besuche ihn jeden Samstagnachmittag«, erzählt Joanne weiter. Der Klang ihrer eigenen Stimme läßt sie sicherer werden. »Die meiste Zeit über weiß er nicht, wer ich bin. Er glaubt, daß ich meine Mutter bin … Sie ist tot … Sie starb vor drei Jahren … mein Vater auch … Jedenfalls besuche ich meinen Großvater jeden Samstagnachmittag. Ich erzähle ihm, was die Woche über alles los war, ich versuche ihn auf dem laufenden zu halten. Alle denken, das muß mir schwerfallen, aber in Wirklichkeit genieße ich es. Er ist so was wie mein Beichtvater, ich erzähle ihm alles, und dann fühle ich mich besser.« Was soll das Geschwätz? Was kümmert Steve Henry ihre Beziehung zu ihrem Großvater? – »Leben Ihre Großeltern, noch?« fragt sie.
»Alle vier«, sagt er lächelnd.
»Da haben Sie Glück.«
»Ja, das stimmt. Unsere Familie hält fest zusammen.«
»Sind Sie nie verheiratet gewesen?« Warum fragt sie das jetzt? Warum lenkt sie das Gespräch wieder auf dieses Gebiet?
Er schüttelt den Kopf. »Einmal war ich nahe dran, aber es hat nicht geklappt. Wir waren zu jung.« Er leert sein Glas. »Wie alt waren Sie, als Sie heirateten?«
»Einundzwanzig«, antwortet sie. »Das war wohl auch ziemlich jung, aber wir fanden es richtig.« Ihre Stimme ist immer leiser geworden. »Ich glaube, ich trinke jetzt doch etwas«, sagt sie plötzlich.
»Was darf es sein?« Er ist schon aufgesprungen.
»Ist Dubonnet da?« Sofort kommt sie sich wieder idiotisch vor. Der Mann ist heute zum erstenmal in ihrem Haus, und sie fragt ihn nach den Alkoholbeständen!
Er verschwindet ins Eßzimmer. Flaschen werden umhergeschoben, dann hört Joanne, daß ein Glas eingeschenkt wird, es folgen Schrittgeräusche und schließlich das Plätschern von Leitungswasser aus der Küche. Einige Minuten später kehrt Steve Henry, in jeder Hand ein frisch gefülltes Glas, ins Wohnzimmer zurück. Er reicht ihr eines. »Sind das Ihre Töchter?« fragt er und deutet auf ein Foto von Robin und Lulu, das in einem Rahmen auf dem Kaminsims steht. Das Bild ist zwei Jahre alt; die Mädchen haben sich gegenseitig die Arme um die Taille geschlungen und schneiden der Kamera ein Gesicht.
»Ja. Links, das ist Robin, sie ist jetzt fünfzehn, fast sechzehn, im September wird sie sechzehn, und die andere ist Lulu … eigentlich Lana, ihr richtiger Name ist Lana, aber wir nennen sie alle Lulu. Sie ist elf.«
»Sie sehen süß aus.«
Joanne lacht. »Also, ich glaube, als ›süß‹ würde ich sie nicht bezeichnen.« Sie schüttelt den Kopf, sie muß an einige Begebenheiten der letzten Monate denken. »An manchen Tagen sind sie wunderbar, da würde ich sie nicht für alles Geld der Welt eintauschen, aber an anderen Tagen könnte ich sie beide für einen Apfel und ein Ei verkaufen. Sie sind den Sommer über im Ferienlager. Neulich habe ich einen Brief von Lulu bekommen … Robin ist keine große Briefeschreiberin, leider …« Abrupt hört sie auf zu sprechen. »Warum erzähle ich Ihnen das alles? Es interessiert Sie bestimmt nicht besonders.«
»Wieso sollte es mich nicht interessieren?«
»Wieso sollte es Sie interessieren?«
»Weil alles, was Sie interessiert, auch mich interessiert.«
»Wieso?«
»Weil Sie mich interessieren.«
»Wieso?«
»Wieso nicht?«
Joanne führt ihr Glas zum Mund, nimmt einen großen Schluck und versucht dabei einigermaßen Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. »Also, erstens einmal bin ich zwölf Jahre älter als Sie. Ich weiß, daß Sie der Meinung sind, Frauen werden erst interessant, wenn sie die Dreißig überschritten haben«, fügt sie hastig hinzu. »Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß ich ein Teenager war, als Sie noch in den Windeln lagen.«
Er lacht. »Jetzt bin ich aus den Windeln heraus.«
»Was wollen Sie von mir?« fragt sie.
»Ein Abendessen?« sagt er schelmisch und sieht lächelnd zu, wie Joanne den Rest ihres Drinks hinunterkippt.
»Das ist der beste Zitronen-Baiser-Pie, den ich
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