Ein moerderisches Geschaeft
Telefon, als könnte sie es mit reiner Willenskraft zum Klingeln bringen. Nichts. Nicht ein einziger Laut. Sie drehte sich mit ihrem Schreibtischstuhl, um zum hundertsten Mal auf die Digitaluhr zu schauen: Es war 10:05 Uhr – wie zehn Sekunden zuvor. Um Himmels willen, sie müsste längst etwas gehört haben.
Mel Gibson stand auf und beugte sich über die Wand, die seinen Arbeitsplatz von Averys trennte, und sah sie voller Mitgefühl an. Mel hieß wirklich so, es war sein echter Name, aber er hielt ihn für ein Hindernis, weil ihn kein Mensch in der ganzen Behörde ernst nahm. Trotzdem weigerte er sich, sich offiziell in »Brad Pitt« umzubenennen, wie es seine Kollegen vorgeschlagen hatten.
»Hi, Brad«, sagte Avery. Sie und die anderen Kollegen probierten immer noch aus, ob der neue Name passen würde. Letzte Woche war es »George Clooney« gewesen, aber das hatte in etwa dieselbe Reaktion hervorgerufen wie »Brad« jetzt – einen bösen Blick und den Hinweis, dass er weder »George« noch »Brad« noch »Mel« hieß, sondern »Melvin«.
»Du hättest inzwischen etwas von ihnen hören müssen«, sagte Mel.
Sie ließ sich nicht von ihm provozieren. Der große, trottelig aussehende Mel mit dem ausgeprägten Adamsapfel hatte die lästige Angewohnheit, seine dicke Nickelbrille mit dem Mittefinger höher auf die Nase zu schieben. Margo, eine andere Kollegin, hatte Avery erklärt, dass Mel das mit Absicht tat. Es war seine Art, die anderen drei wissen zu lassen, wie überlegen er sich ihnen fühlte.
Avery war anderer Ansicht. Mel würde nie etwas Unanständiges tun. Er lebte nach dem Sittenkodex, den das FBI seiner Meinung nach personifizierte. Er war engagiert, verantwortungsbewusst, fleißig, ehrgeizig und hatte den Job, den er wollte … Aber einen Mangel hatte er doch. Obwohl er erst siebenundzwanzig Jahre alt war, erinnerte seine Kleidung stark an die Aufmachung der Agenten aus den fünfziger Jahren: schwarze Anzüge, weiße, langärmelige Hemden mit Button-down-Krägen, dünne schwarze Krawatten, schwarze glänzend gewienerte Schnürschuhe und dazu eine Bürstenfrisur, die alle zwei Wochen nachgeschnitten werden musste.
Trotz aller Eigenheiten – er konnte den gesamten Text der FBI Story zitieren, in der Jimmy Stewart die Hauptrolle gespielt hatte – besaß er einen unglaublich scharfen Verstand und war ein ausgezeichneter Teamplayer. Er sollte die Dinge nur ein wenig leichter nehmen, fand sie. Das war alles.
»Meinst du nicht auch, dass du mittlerweile Bescheid wissen müsstest?« Er klang so besorgt, wie sie sich fühlte.
»Es ist noch früh.« Aber keine fünf Sekunden später sagte sie: »Du hast Recht. Wir hätten längst etwas hören müssen.«
»Nein«, korrigierte er sie. »Ich sagte, du hättest eine Nachricht erhalten sollen. Lou, Margo und ich haben nichts mit der Entscheidung, das SWAT-Team einzuschalten, zu tun.«
O Gott, was hatte sie gedacht? »Mit anderen Worten, ihr hört euch den Anschiss nicht an, wenn ich mich geirrt habe?«
»Es geht nicht nur um einen Anschiss«, erwiderte er, »sondern um mehr. Ich brauche diesen Job. Ich wollte immer Agent werden und näher komme ich nicht mehr dran. Bei meiner Kurzsichtigkeit …«
»Ich weiß, Mel.«
»Melvin«, verbesserte er sie automatisch. »Und die Vorteile sind immens.«
Margo stand auf, um an der Unterhaltung teilzunehmen. »Die Bezahlung ist beschissen.«
Mel zuckte mit den Schultern. »Genau wie der Arbeitsplatz an sich«, sagte er. »Aber trotzdem … es ist das FBI.«
»Was ist nicht in Ordnung mit unseren Arbeitsplätzen?«, fragte Lou, der ebenfalls aufstand. Sein Kabuff befand sich links von Averys. Mels war direkt davor und Margos grenzte an das von Lou. Der Verschlag, wie sie ihr scheußliches Büro liebevoll nannten, lag hinter dem Heizungsraum mit den lauten Warmwasserkesseln und Kompressoren. »Was gibt’s daran auszusetzen?«, fragte er in verständnislosem Ton.
Lou war arglos wie immer, aber liebenswert, fand Avery. Wann immer sie ihn ansah, musste sie an Pig-Pen aus den alten Peanuts -Heften denken. Lou war immer zerzaust und schmuddelig. Er war absolut brillant, aber er schien beim Essen nur mit Mühe seinen Mund zu finden, und auf seinen kurzärmeligen Hemden war immer mindestens ein Fleck. Heute Morgen waren es zwei – einmal Himbeermarmelade von den gefüllten Doughnuts, die Margo mitgebracht hatte. Der große rote Fleck saß genau über dem schwarzen Tintenklecks, den sein Füller in der Brusttasche
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