Ein Moment fürs Leben. Roman
Kopf.
»Das Schwarze?«
Er zuckte die Achseln. »Probier es mal an.«
In Unterwäsche kletterte ich aufs Fensterbrett und angelte nach dem Kleid.
»Wie fühlst du dich denn jetzt, wo du die dreißig erreicht hast?«
»Genau gleich wie gestern mit neunundzwanzig.«
»Das ist nicht wahr.«
»Nein, das ist nicht wahr«, gab ich zu. »Letzte Nacht hatte ich eine Offenbarung, und heute Morgen im Supermarkt hat sie sich noch ausgeweitet. Ich sollte da wirklich öfter hingehen, weißt du. Als ich die Rosinen gesehen habe, wusste ich plötzlich genau, was ich zu tun habe. Aber das hatte nichts damit zu tun, dass ich dreißig geworden bin.«
»Nein, das hatte natürlich nur mit dem magischen Supermarkt zu tun.«
»Ja, vielleicht liegt es daran, wie er angelegt ist. Er ist so strukturiert. So klar, so nüchtern, so Obst hier und Gemüse dort, und so hallo Eiscreme, du bist kalt, also gehörst du nach da drüben in die Gefriertruhe, zusammen mit dem anderen kalten …«
»Lucy«, unterbrach er mich.
»Ja.«
»Das Kleid macht dick.«
»Oh.« Ich zog es wieder über den Kopf.
Mein Leben lag in einem eleganten Sommeranzug auf dem Bett, hatte sich meine Kissen in den Rücken gestopft und die Arme hinter dem Kopf verschränkt.
Ich probierte das nächste Kleid an.
»Deine Mum scheint sich ja richtig auf heute Abend zu freuen.«
»Ja.« Ich runzelte die Stirn. »Wahrscheinlich denkt sie, ich werde bekanntgeben, dass ich eine olympische Medaille gewonnen habe oder so. Ich glaube, sie kapiert nicht wirklich, worum es mir geht.«
»Was hast du ihr denn gesagt?«
»Das Gleiche wie den anderen.«
»Dass du uns zu einer ›Feier der Wahrheit‹ einladen möchtest«, sagte er großartig, sah auf sein Handy, wo er meine SMS aufgerufen hatte, und las vor, »›P. S.: Falls ihr mir was schenken wollt, dann bitte Geld. Alles Liebe, Lucy.‹« Er hob eine Augenbraue. »Sehr charmant.«
»Na ja, es ist doch sinnlos, um den heißen Brei rumzureden, oder? Ich brauche Geld.«
»Du bist echt eine ganze neue Lucy,. Ich kann deine Nippel sehen«, stellte er fest.
»Ob du es glaubst oder nicht – manche Männer wollen gern meine Nippel sehen«, grollte ich, zog das Kleid aber trotzdem wieder aus.
»Ich gehöre nicht dazu.«
»Du musst schwul sein«, sagte ich, und wir lachten.
»Da wir schon mal beim Thema sind – was glaubst du, was Blake von dieser kleinen Versammlung hält?«
»Ich glaube, wenn er davon erfährt, wird er ziemlich sauer sein«, antwortete ich, frustriert, weil ich mich total in meinem nächsten Kleid verheddert hatte. Mein Kopf steckte darunter fest, und erst als ich es schaffte, den Reißverschluss am Rücken ganz zu öffnen, rutschte es endlich an Ort und Stelle. Allerdings waren meine Haare jetzt statisch aufgeladen, standen wild vom Kopf ab, und um den Reißverschluss zu erreichen, hätte ich mir die Schultergelenke auskugeln müssen.
»Lass mich dir helfen«, sagte mein Leben, bewegte sich endlich doch vom Bett herunter und zog den Reißverschluss für mich hoch. Dann strich er mir die Haare glatt, zupfte das Oberteil zurecht und musterte mich prüfend von oben bis unten. Hätte nur noch gefehlt, dass er mir vorschlug, es mal mit Philips Schönheitschirurgie zu probieren.
»Sehr schön«, sagte er dann aber, und ich freute mich. »Komm.« Er gab mir einen Klaps auf den Hintern. »Die Wahrheit wird dich frei machen.«
Zum ersten Mal seit zwei Jahren, elf Monaten und dreiundzwanzig Tagen war ich die Erste an unserem Tisch im Wine Bistro. Mein Leben saß neben mir, auf meiner anderen Seite wollte ich den Platz leer lassen, weil ich immer noch Hoffnung hatte. Ich hoffte einfach weiter. Mum setzte sich auf den Stuhl daneben.
Als Nächster kam Riley an, mit einem Blumenstrauß, einer Fußmatte, einem Drei-Bohnen-Salat und einem Briefumschlag. Ich lachte und griff sofort nach dem Umschlag. Ohne die Karte zu lesen, schüttete ich ihn aus und zählte zweihundert Euro in vier Fünfzigeuroscheinen. Ich jubelte. Mein Leben verdrehte die Augen.
»Du bist so durchschaubar.«
»Na und? Ich bin pleite, ich hab keinen Stolz.«
Riley begrüßte mein Leben mit einer Verneigung und einem Handkuss. »Mum, ich wusste gar nicht, dass du kommst«, sagte er dann, begrüßte sie als Nächste und ging auf den leeren Stuhl neben mir zu.
»Ich erwarte jemanden«, sagte ich schnell und stellte den Drei-Bohnen-Salat auf den Stuhl.
»Ich wohne bei Lucy«, verkündete Mum fröhlich und zog für Riley den Stuhl auf
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