Ein Moment fürs Leben. Roman
viel weniger Fragen. Wenn ich gesagt hätte, dass
er
mich verlassen hatte, wäre ich mit Mitgefühl überschüttet worden, man hätte versucht zu analysieren, was ich womöglich falsch gemacht hatte, in welcher Hinsicht ich mitschuldig war, und alle hätten Angst gehabt, mir davon zu erzählen, wenn sie ihm begegneten oder ihn mit einer neuen Freundin sahen. Zu behaupten, dass ich ihn abserviert hatte, machte alles einfacher. Nur war es nicht wirklich einfacher, weil er in Wirklichkeit mich verlassen hatte, und ich mir alles anhören musste, was sie über ihn sagten, und so tun, als würde es nicht wehtun. Ich musste mir seine Fernsehsendung anschauen und so tun, als würde es nicht wehtun, und wenn ich wütend auf ihn war, dann bekam ich zu hören, ich hätte doch keinen Grund, wütend zu sein, und sollte lieber daran denken, wie tief verletzt er war, der Arme. Ich saß in der Falle, gefangen in dieser dicken fetten Lüge.
Denn von nun an schleppte ich dieses große Geheimnis mit mir herum, dieses Konglomerat aus Schmerz, der sich in Wut verwandelt hatte, dieser Wut, aus der Selbstmitleid wurde und dann Einsamkeit, denn weil ich nie die Gespräche geführt hatte, die mir geholfen hätten, darüber hinwegzukommen, fühlte ich mich in meiner heimlichen Realität einsam und allein. In der ersten Zeit trug ich den Schmerz, die Wut und das Selbstmitleid mit mir herum, und aufgrund von Umständen, auf die ich vielleicht später noch näher eingehen werde, wurde ich aus meinem respektablen, gut bezahlten Job gefeuert. Aber um jemandem erzählen zu können, dass ich gefeuert worden war, hätte ich den Betreffenden erzählen müssen,
warum
ich gefeuert worden war, und das konnte ich nicht, weil es nach so langer Zeit einfach nur bizarr gewesen wäre, eine Lüge dieser Größenordnung zu beichten, also behauptete ich, dass ich selbst gekündigt hätte. Und so arrangierte sich mein Leben immer mehr um diesen Haufen dicker fetter Lügen. Und es waren dicke fette Lügen, auch wenn das Ergebnis noch so sehr das gleiche war.
Mehr möchte ich nicht zugeben, denn wie sich herausstellte, war ich glücklich damit, wie mein Leben sich entwickelte. Wenn mein Leben sich vor zwei Jahren mit mir hätte treffen wollen, hätte ich die Motivation verstanden, denn damals hatte ich das Gefühl, am Abgrund zu stehen. Aber jetzt nicht mehr. Ich war aus großer Höhe abgestürzt und hatte mich an einer Stelle gefangen, die manche vielleicht als ziemlich bedenklich betrachtet hätten, weil sie nicht sonderlich stabil war, aber ich war sehr glücklich, ich fühlte mich wohl, alles war in Ordnung, vollkommen in Ordnung.
Als ich in die Lobby des deprimierenden Lego-Baus kam, war American Pie nicht mehr da. Ich legte den Schokoriegel, den ich ihr mitgebracht hatte, weil sie am Telefon von ihm geschwärmt hatte, auf ihren Schreibtisch, verließ das Gebäude und versuchte den frustrierenden kleinen Mann zu vergessen, der mir mehrere kostbare Stunden meines Sonntags verdorben hatte. Aber es ging nicht. Der frustrierende kleine Mann verkörperte mein Leben, und ausnahmsweise konnte ich mein Leben nicht so einfach vergessen. In diesem Moment hatte ich nichts, womit ich mich ablenken konnte – kein Auto zu reparieren, keine E-Mail zu schreiben, kein Fax zu verschicken, kein Familienmitglied anzurufen, keine Probleme von Freunden zu lösen –, und ich wurde ein bisschen nervös. Mein Leben hatte mir gerade unmissverständlich mitgeteilt, dass ich einsam und unglücklich war und bleiben würde. Ich weiß nicht, was man mit so einer Information anfangen soll, ehrlich nicht. Er hatte mir nicht gesagt, was ich tun musste, um nicht mehr allein und unglücklich zu sein, und jetzt wollte ich nur die Wirklichkeit bekämpfen, wie ein Patient, der gerade von einer schlimmen Krankheit erfahren hat und sie um jeden Preis leugnet, weil er zwar die Diagnose hat, aber keine Symptome fühlt. An der nächsten Ecke sah ich ein Café. Das war die Lösung! Ich mag Kaffee, er macht mich auf die Art glücklich, wie einen kleine Dinge glücklich machen können. Wenn ich in einem Café saß, bedeutete das, dass ich in Gesellschaft anderer Menschen war, und der Kaffee bedeutete, dass ich glücklich war. Also war ich nicht mehr allein und unglücklich.
Drinnen war alles voll, nur noch ein kleines Tischchen war frei, und ich schlängelte mich zu ihm durch. Überall wurde geplaudert. Auch das freute mich, denn andere Stimmen lenkten mich von meinen eigenen Gedanken ab. Ich
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