Ein Moment fürs Leben. Roman
hatte, ließ mir keine Ruhe. Seine Argumente gaben mir immer zu denken. Es war, als würde er in einem bestimmten Ton mit mir sprechen, der mein Hirn ganz direkt erreichte, wie eine Trillerpfeife, die für das menschliche Ohr unhörbar ist, für einen Hund. Ich zermarterte mir den Kopf. Was wollte ich wirklich? Wahrscheinlich muss man, um zu wissen, was man will, erst einmal wissen, was man nicht will, aber da kam ich lediglich zu der Erkenntnis, dass ich mir wünschte, mein Leben hätte mich nicht kontaktiert und ich hätte so weitermachen können wie bisher. Sein Erscheinen hatte alles unendlich verkompliziert, weil er versuchte, Dinge zu verändern, mit denen ich absolut zufrieden war. Vielleicht sah es für ihn so aus, als wäre ich festgefahren, aber er hatte mich ja schon aus meinem Trott herausgeholt, und allein dadurch, dass er mich darauf aufmerksam gemacht hatte, würde ich nie mehr dorthin zurückkehren können. Dabei mochte ich meinen Trott, ich vermisste meinen Trott, ich würde meinem Trott ewig nachtrauern.
Um die Mittagszeit hatte ich Kopfschmerzen, aber eine saubere, aufgeräumte Wohnung, und erwartungsgemäß war die Reinigungsfirma unpünktlich. Es wurde Viertel nach zwölf, und es war immer noch niemand da. Um halb eins begann ich mich zu freuen, dass man mich vergessen hatte, und überlegte, was ich mit meiner Freiheit anfangen wollte. Aber es wollte mir nichts Rechtes einfallen. Melanie war nicht da, aber wir hatten seit unserer letzten Begegnung auch keinen Kontakt mehr gehabt, und ich stand im Augenblick sicher nicht ganz oben auf der Liste der Menschen, mit denen sie sich am liebsten unterhalten wollte. Und nach dem Essen gestern Abend hatte ich auch keine Lust, mich mit einem meiner anderen Freunde zu treffen. Sie glaubten, dass ich Blake betrogen hatte, und seit ich gestern erfahren hatte, dass sie meine abrupte Veränderung sehr wohl wahrgenommen und ihre eigenen Schlüsse daraus gezogen hatten, verstand ich auch, wie sie darauf kamen. Aber es tat trotzdem weh.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach mich in meiner Grübelei. Es war Claire, mit nassem, verweintem Gesicht.
»Lucy«, schniefte sie. »Es tut mir so leid, Sie am Sonntag zu stören, aber ich habe den Fernseher gehört, und … na ja, ich wollte fragen, ob Sie wohl so nett wären, noch mal auf Conor aufzupassen. Ich würde Sie lieber nicht darum bitten, aber das Krankenhaus hat wieder angerufen, und sie sagen, es ist ein Notfall, und …« Sie brach ab.
»Selbstverständlich. Würde es Ihnen etwas ausmachen, ihn zu mir rüberzubringen? Ich muss nämlich hierbleiben, weil ich Leute zum Teppichreinigen bestellt habe.«
Einen Moment geriet sie ins Schwanken, obwohl eigentlich klar war, dass sie gar keine andere Wahl hatte, und sie ging in ihre Wohnung zurück. Ich fragte mich, ob sie sich einfach hinsetzte und bis zehn zählte, ehe sie zurückkam, oder ob sie tatsächlich so tat, als würde sie ein Baby hochnehmen und in den Buggy setzen. Auf einmal spürte ich eine tiefe Traurigkeit für sie. Dann ging die Tür wieder auf, und der leere Buggy wurde heraus- und zu mir herübergeschoben.
»Er schläft seit fünf Minuten«, flüsterte Claire. »Normalerweise macht er tagsüber ungefähr zwei Stunden Mittagsschlaf, also müsste ich eigentlich wieder da sein, bis er aufwacht. Aber es ging ihm irgendwie nicht gut in letzter Zeit, ich weiß nicht, was er hat.« Mit gerunzelter Stirn machte sie sich an dem leeren Buggy zu schaffen. »Vielleicht schläft er deshalb auch ein bisschen länger als sonst.«
»Okay.«
»Vielen Dank.« Nach einem letzten Blick in den leeren Kinderwagen wandte sie sich zum Gehen. Als sie in den Korridor hinausschaute, stand ein Mann vor ihrer Tür.
»Nigel«, sagte sie erschrocken.
Er wandte sich um. »Claire.« Ich erkannte den Mann von den Fotos in ihrer Wohnung, ihren Mann, Conors Vater. Er schaute auf die Nummer über ihrer und dann auf die Nummer über meiner Tür. »Ist das die falsche Wohnung?«
»Nein, das ist Lucy, unsere … meine Nachbarin. Sie passt auf Conor auf.«
Er warf mir einen Blick zu, dass ich am liebsten im Erdboden versunken wäre. Bestimmt dachte er jetzt, ich würde Claire ausnutzen – aber was sollte ich denn tun? Ihr sagen, dass es kein Kind mehr gab? Das wusste sie doch bestimmt tief in ihrem Herzen.
»Ich nehm auch kein Geld dafür«, platzte ich heraus, denn ich wollte unbedingt verhindern, dass er schlecht von mir dachte. »Aber sonst will sie nicht weggehen.«
Er
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