Ein Moment fürs Leben. Roman
träumen andere Menschen denn so? Vielleicht von einem Fallschirmsprung? Hab ich schon gemacht, ich hab sogar den Trainerschein, ich könnte dich also jederzeit aus einem Flugzeug schubsen, wenn ich wollte. Oder die Pyramiden sehen? Schon erledigt. An meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag, mit Blake. Es war heiß, die Pyramiden sind genauso groß und majestätisch, wie man sie sich immer vorstellt, aber ob ich sie mir noch mal anschauen würde? Die Antwort lautet Nein. Ein seltsamer Mann hat versucht, mich in sein Auto zu zerren, als Blake gerade bei McDonald’s nebenan auf der Toilette war. Mit Delphinen schwimmen? Auch abgehakt. Will ich es noch mal machen? Nein, danke. Niemand sagt einem vorher, dass die Viecher aus der Nähe furchtbar stinken. Bungeejumping? Na klar, hab ich auch schon hinter mir, mit Blake, in Sydney. Sogar Haikäfig-Tauchen hab ich probiert, in Kapstadt, nicht zu vergessen den Ballonflug, den Blake mir mal zum Valentinstag geschenkt hat. Ich hab die meisten Sachen gemacht, von denen andere Leute träumen, und nichts davon war wirklich mein Traum, es waren bloß Sachen, die ich gemacht habe. Was stand heute in der Zeitung?« Ich hob eine der Seiten, die ich vorhin gelesen hatte, vom Boden auf und deutete auf den Artikel. »Ein siebzigjähriger Mann möchte sich in einem dieser Raumflugzeuge in den Weltraum schießen lassen, damit er sich die Erde von dort oben ansehen kann. Na ja, ich lebe auf der Erde, und von hier aus gesehen, ist sie schon ziemlich beschissen, warum sollte ich sie mir auch noch aus einer anderen Perspektive anschauen? Was soll das bringen? Solche Träume sind für mich reine Zeitverschwendung, und das war die blödeste Frage, die du mir jemals gestellt hast. Früher hab ich die ganze Zeit irgendwas unternommen, wie kannst du es da wagen, mir das Gefühl zu geben, dass ich ohne einen Traum nichts wert bin? Reicht es nicht, dass du mein Leben ungenügend findest, müssen es jetzt auch noch meine Träume sein?«
Nach dieser Tirade musste ich erst mal tief Luft holen.
»Okay.« Mein Leben stand auf und nahm seine Jacke. »Es war eine dumme Frage.«
Argwöhnisch kniff ich die Augen zusammen. »Warum hast du sie dann gestellt?«
»Lucy, wenn du dich nicht für dieses Gespräch interessierst, dann brauchen wir es auch nicht zu führen.«
»Ja, dieses ganze Traumzeug interessiert mich nicht, aber ich möchte wissen, warum du mir diese Frage gestellt hast.«
»Du hast vollkommen recht, du hast dein Leben ausgekostet bis zur Neige, es gibt nichts mehr für dich zu tun. Zeit aufzuhören. Du könntest dich genauso gut hinlegen und sterben.«
Ich schnappte nach Luft.
»Ich sage damit nicht, dass du demnächst sterben wirst, Lucy«, fuhr er fort, ganz offensichtlich frustriert von mir. »Aber irgendwann schon.«
Ich schnappte erneut nach Luft. »Jeder stirbt irgendwann.«
»Ja, stimmt.«
An der Tür drehte er sich noch einmal zu mir um. »Der Grund, warum ich dich gefragt habe, ist folgender: Ganz egal, was du sagst oder wie viele Lügen du erzählst, Tatsache bleibt, dass du mit deiner momentanen Situation nicht glücklich bist, aber wenn ich dich frage, was du willst, was du dir mehr als alles andere auf der Welt wünschst, einfach so, ohne Einschränkung, dann fällt dir nichts anderes ein als ›im Lotto gewinnen und Sachen kaufen‹.« Seine Stimme klang scharf, und ich schämte mich.
»Aber bestimmt würden die meisten Leute sagen, dass sie im Lotto gewinnen möchten.«
Er warf mir einen Blick zu und wandte sich wieder zur Tür.
»Du bist sauer auf mich. Ich verstehe nicht, warum du sauer auf mich bist, nur weil mein Traum dir nicht gefällt, ich meine, das ist doch lächerlich.«
Er antwortete ganz sanft und freundlich, was mich noch mehr nervte: »Ich bin sauer, weil du nicht nur nicht glücklich bist, sondern weil dir nicht das Geringste einfällt, wie du etwas daran ändern könntest. Und ich finde, das ist …« Er suchte nach dem richtigen Wort. »… einfach nur traurig. Kein Wunder, dass du so festgefahren bist.«
Obwohl ich noch einmal in mich ging, obwohl ich noch einmal angestrengt nachdachte über meine Träume, meine Wünsche, meine Ziele, was ich gern ändern, was ich erreichen wollte – mir fiel nichts ein.
»Dachte ich mir«, sagte mein Leben schließlich. »Dann bis morgen.« Er nahm seine Jacke und seinen Rucksack und verließ meine Wohnung, und so endete der Tag, der so schön angefangen hatte, auf die schlimmstmögliche Art.
Was er gesagt
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