Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Vom Netzwerk:
im Ausstiege Gelegenheit habe, zwischen den eigenen gespreizten Beinen hindurch gerade unter sich den Einstieg tief und ganz klein zu sehen.
    Castiletz machte dies keinen Eindruck, auch keinen augenblicklichen und vorübergehenden. Er war allein, und gerne allein. Wenn er Gin getrunken hatte, öffnete sich der »Ernst des Lebens« wie eine Schale, mitunter in seltsamer Art und Weise, etwa so, daß ein draußen eben vorbeigefahrener schwerer Lastwagen ihm das Unwiederbringliche jedes Augenblickes anschaulich und deutlich machen konnte: eben hatte noch alles gezittert von dem Dröhnen in der Weißenborn – und dann in der Hans-Hayde-Straße. Nun schloß sich die Stille. Mit dieser schienen die stummen Dinge, etwa die Möbel, weit mehr vertraut zu sein als der Mensch: weshalb sie hochmütig dreinsahen, ohne was zu verraten. Nie mehr würde dieser Wagen zu diesem Zeitpunkte wie eben vorhin vorbeifahren. Das Wort »Vergangenheit« füllte sich sommerlich, wie eine Schale mit Honig. Und doch blieb es in irgendeiner Weise zweideutig, ja zweifelhaft. Ja, auch das erlebte Castiletz jetzt; und recht un-textilisch.
    Als sein Urlaub begann, traf er sich mit Marianne in Innsbruck, um mit ihr in ein italienisches Seebad zu fahren. Sie ging neben ihm in einer dieser Straßen, an deren Ende stets mit rauhem, frischem Antlitz ein grün-grauer Berg hereinsieht, bei aller Sommerwärme. Mariannes Haar schien weißblond, ihr Genick war braun wie eine Nuß. Castiletz stand etwas ratlos herum, während er mit außerordentlicher Deutlichkeit empfand, wie gut sie in diese kräftige Umgebung paßte; er wunderte sich übrigens, daß niemand von Mariannes ganzer Gesellschaft mit hierhergekommen war. In Rimini hörte dann die Wirklichkeit für ihn sozusagen endgültig auf, so daß er sich geradezu daran gewöhnte, ohne dieselbe zu leben, im Hotel, wo es manchmal ein wenig nach in Öl gebratenen Fischen roch, oder am Strande zwischen »Cabanen« und Liegestühlen. Seltsamerweise gemahnte ihn dieser Strand mit den vielen klapprigen Dingen, die es da gab, an den Garten der Tante Erika im Vorfrühling, ja, das leicht aufgewölbte Meer konnte ganz gut für den blassen Himmel hingehen, welchen er damals beim Durchschreiten des Gartens hinter den noch kahlen Lauben und Spalieren nur flüchtig erblickt hatte, jetzt aber deutlich und ruhend erinnerte. Ja, im ganzen: von dieser Ostküste Italiens nahm er einen einzigen wirklichen Eindruck mit, den man mit Recht für nebensächlich halten wird, und doch war es der einzige: als sie nach Venedig abreisten, sah er, nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte, rechter Hand einen großen, grau gestrichenen Gasometer stehen (jedenfalls war es irgendein Behälter dieser Art), vor dem rasch die Fahrt entlanglaufenden, hier bereits wieder leeren gelblichen Sande, darauf das Meer bei leichtem Winde kleine gläserne Walzen rollte an seinem Rand. Dieser Gasometer, oder was das schon sein mochte, war mit schwarzen dünnen Streifen in derart übereinandergestellten Vierecken bemalt, daß es etwa wie Quadern aussehen sollte, also gemauert. Oben ragte ein Blitzableiter. Castiletz drehte sich nach dem in der Eile der Fahrt entschwindenden Gebäu um: dieses schien das Meer, welches dahinter begann, irgendwie zu begrenzen, zu verkleinern, ja den Strand fast zum Gestade eines Flusses zu machen; so empfand er das. Bald war nun alles vorüber. Castiletz wurde sich deutlich dessen bewußt, daß Dinge dieser Art, wie die schwarzen gemalten Vierecke an dem Gasometer, allermeist nur von Kindern beachtet werden (die in bezug auf solche Sachen auch Fragen stellen!), während die Erwachsenen derartiges gewissermaßen hochmütig zu übersehen pflegen.
    Der museale Prunkmantel Venedigs wurde von Conrad als ein unangenehmes Kleid empfunden, darin man nicht zur Besinnung kommen konnte, vielmehr andauernd in ein zweckloses Staunen hinausgebeugt blieb – wozu er sich merkwürdigerweise verpflichtet fühlte. Hier acht Tage oder noch länger zu sein, schien ihm von Anfang an eine schreckliche Belastung, welche durch die Fahrten auf den Lido um nichts leichter wurde. Der von Hotels gefesselte und verengte Strand, der verdächtige Prunk des »Stabilimento« (damals stand noch das alte, welches die Götter, ärgerlich geworden, nicht viel später verbrennen ließen), das alles bedrängte ihn, samt der Hitze, die in Rimini viel weniger empfindlich für ihn gewesen war, da man hier den größten Teil des Tages fast nichts auf dem Leib getragen

Weitere Kostenlose Bücher