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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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gekommen war« (jetzt fühlte Castiletz, was schon Hohenlocher damals erwähnt hatte, nämlich etwa, daß die Rosanka dazu neigte, sich selbst zu ironisieren, jedoch mit sehr zurückhaltenden Mitteln, hier vielleicht nur durch die Wahl des Wortes »Blümlein« und den Ton, in welchem sie es aussprach) » – ich war nicht viel länger als fünf Minuten bei ihr. Sie sagte, sie wolle in ihr Abteil gehen – es war ein Damenabteil zweiter Klasse; Louison hat nie im Schlafwagen fahren mögen, ich wollte, sie hätte es getan, ich habe immer die Empfindung gehabt, daß im Schlafwagen etwas Derartiges nicht geschehen kann, jedoch ist das wahrscheinlich Unsinn. Aber im Schlafwagen steht doch immer wer von dem Personal am Gang herum. Doktor Inkrat sagte auch, das sei alles Unsinn, was ich da dächte, und das Schicksal pflege vor der Schlafwagengesellschaft nicht haltzumachen . . . Louison also schickte mich weg, sie wollte sich zurückziehen. Sie war ganz offensichtlich in schlechter Verfassung, dies war das einzige, was mir aufgefallen ist und was ich damals angeben konnte . . . aber, wer sie näher gekannt hat, der hat das mit ihr oft erlebt: ich meine ihre Depressionen. Damals, als ich sie hier im Atelier malte, kam sie am einen Tag so biegsam wie ein Strauch im Frühling und am nächsten dann tapste sie geradezu unsicher daher, wandte sich alle Augenblicke um und erschrak, wenn auf der Dachrinne hier ein Sperling mit den Flügeln schlug. Im letzten Jahr, nach dieser Sache mit Derainaux, waren ihre Nerven überhaupt sehr schlecht, wie mir schien, was am Ende nicht verwundern kann, nach einer solchen Häufung von Mißverständnissen auf seiten aller Beteiligten. Diese ganze Geschichte kam mir immer vor wie das Musterbeispiel dessen, was man einen ›fundamentalen Irrtum‹ zu nennen pflegt. . . Nun also, damals, als ich sie zum letzten Male sah, ging es Louison wieder einmal schlecht. Ich erinnere mich genau, daß sie ganz unverhältnismäßig auf dem Bahnsteig erschrocken ist, weil ein Rollwagen mit Gepäck knapp hinter ihr vorbeifuhr; sie sprang beiseite und stieß einen kleinen Schrei aus. Sonst aber war sie alles eher als ängstlich. Gleich nach diesem kleinen Zwischenfall übrigens umarmten wir uns zum letzten Male und wir sagten uns Lebewohl.«
    Hätte Castiletz jetzt Maria Rosanka nicht angesehen, er hätte nicht bemerkt, daß sie weinte. Sie tat es vollkommen lautlos und ihrer Stimme war bei den letzten Worten noch nichts anzumerken gewesen. Rasch und leicht, ohne ein Schluchzen, flossen die Tränen aus den großen offenen Augen, die ratlos dreinsahen wie die eines erschrockenen Kindes, erschrocken über das eigene Weinen. Conrad war nicht weit davon. Hätte es da rückwärts, »in der Ferne der Zeiten«, in seinem Leben nicht irgendwo einen gewissen Punkt gegeben, wo die Möglichkeit solcher strömender Lösung und Erleichterung verschwunden zu sein schien wie ein Fluß im Karst: es wäre ihm jetzt wohl beigekommen.
    So hielt er sich, wartete, schwieg und sah in die sonnige Weite hinaus, die sich da sanft gegen das schräge große Fenster lehnte. Er wußte, daß er nun von hier zu gehen hatte. Und durch Augenblicke fiel ihm der Abschied schwer. Wieder, während er Maria Rosanka mit einem Gefühle warmer und tiefer Achtung die Hand küßte, füllte sich jenes Wort »Vergangenheit« mit Inhalt, und wie eine volle Honigwabe des spätesten Sommers blieb diese geründete Stunde hier in der hellen, nach Lack duftenden Werkstatt hinter Castiletz zurück.
    Er ging zu Fuß, kam jedoch vom kürzesten Wege zum Hauptbahnhof ab (ja, er ging wie in einer zarten, rund um ihn gespannten, durchsichtigen Hülle!), am Stadtgarten und an der Polytechnischen Schule vorbei und dann durch eine gerade hinführende Straße an der linken Ecke des großen Bahngebäudes heraus. Es wäre notwendig gewesen zu essen, jedoch Castiletz tat das nur stehend am Büfett; es waren sogenannte »russische Eier« oder etwas dergleichen, was er da schluckte. Er sah nach den Zügen. Sein Zustand hatte eine helle, klar bewußte Fassade, welche darin bestand, daß ihm noch vier Tage von seinem Urlaub verblieben und er also ruhig in eine ganz andere Richtung fahren konnte als nach Hause. Wollte er sich – und das stand jetzt außer Zweifel für ihn – mit dem Falle Louison Veiks ernstlich beschäftigen, dann war es unbedingt von Vorteil, die ganze Strecke etwas genauer kennenzulernen, mit Personenzügen zu reisen, in kleinen Abschnitten vielleicht; und

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