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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

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rotem Weinlaub auf der anderen Seite des Platzes und der Station gerade gegenüber lag.
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    Die Wände waren etwa bis zur Brusthöhe mit einer gepreßten dunklen Tapete bekleidet; dann gab es eine Leiste. Und von hier an begann ein heller, freundlicher Anstrich mit einem naiv-vergnügten Muster. Dieses sah Conrad zuerst, als er in dem breiten Holzbett erwachte. Nach einer Weile nahm das Leben wieder jene Formen an, welche es eben zu haben pflegt, und überwand die des Traumes. Damit traten bereits Einzelheiten in Erscheinung, so etwa die Verwunderung darüber, daß dieser Gasthof Zimmer mit Zentralheizung, breiten Waschtischen und fließendem heißen und kalten Wasser hatte, in einem so winzigen Örtchen. Hierin aber täuschte sich Conrad, denn er hatte nur den letzten Zipfel davon beim Bahnhof gesehen. Jetzt kamen draußen Schritte, und an seiner Tür vernahm er das Niedersetzen der Schuhe, die offenbar gereinigt worden waren, ebenso wie sein Anzug, den man nun klappernd an den Kleiderhaken neben der Türe hing. Dann klopfte es leicht, und die Schritte entfernten sich. Zwischen all diesen Einzelheiten und Kleinigkeiten stellte Castiletz im Bette mit wirklichem Bedauern fest, daß er jenes blaue Heft in Quarto, darin nun längst alles irgendwie Erhebliche von ihm eingetragen worden war, nicht bei sich führte (wäre wohl auf der italienischen Reise mit Marianne wenig empfehlenswert gewesen!). So, ohne dieses Hilfsmittel, war es gewissermaßen schwerer, den ganzen Fall geordnet als eine frei gewählte Beschäftigung in Angriff zu nehmen.
    Kaum eine Stunde später ging er durch die Ortschaft und deren in der Morgensonne gemächlich bewegtes Leben, ein Karren mit Maisstroh und ein Wagen mit Fässern. . . Als er auf die Landstraße kam, die sich, wie Castiletz nun bemerkte, nach links auf den flach ansetzenden Ringwall des Gebirges hinaufzog, sah er dessen mächtigen Dreiviertelkreis schon teilweise vor sich liegen in der Morgensonne, zuhöchst wohl mehrere hundert Fuß aufragend, steil und abschließend, eine Mauer, an welcher dort drüben das Gewölk der Baumkronen kroch wie erstarrter Schaum.
    Wenn Bewohner dieser Gegend die seltsame Gestalt der Landschaft oft so zu erklären pflegten, daß hier vorzeiten der Neckar seinen Lauf genommen und diesen genauen Bogen ausgewaschen habe, so war das nur beiläufig gemeint und hält bei näherer Überlegung nicht stand. Warum sollte der Fluß, der jetzt dieses ganze Becken abgedrängt vermeidet, einst in enger Krümmung, ja rücklaufend, zum zweiten Male um den Berg gegangen sein, den er bis heute nicht durchbrochen hat? Nein, diese schnurgerad kantenden, gezirkelt hinlaufenden Lehnen – in einem leicht elliptischen Bogen, dessen größter Durchmesser etwa zweitausendsiebenhundertundfünfzig Meter beträgt – sie verleugnen nicht ihre Herkunft, wenn auch die weingoldne Sonne zuzeiten das Allzustrenge in Ferne und Weichheit hinüberspinnen möchte und auf diesen Hängen liegt wie der vergehende Glanz eines Freudenlächelns auf einem harten Antlitz. Hätte Castiletz sich mit so was je »beschäftigt« (»beschäftigt« wie einst der Knabe Günther mit den vorweltlichen Ungeheuern), dann hätte er vielleicht das Geheimnis der Gegend verstanden. Sie stammt, wie sie ist, möglicherweise gar nicht aus dieser unserer Welt. Sie bewahrt vielleicht in ihrem Antlitze treu und starr die übermenschliche Erinnerung an eine Katastrophe: als hier ein Weltkörper einschoß, den weichen Muschelkalk in einem Ringwulst beiseite drängend, sich selbst tief einbohrend in der Mitte, die heute noch kegelförmig aufgewölbt ist, als Grabmal für den in Weißglut, Heulen und Donner versunkenen Riesen: ein Stäubchen nur gegen den Planeten, der ihn einst mit furchtbarer Saugkraft aus seiner himmlischen Bahn gebogen, zum Kippen, zum Einschießen in den Erdkörper gebracht hat. Ja, es sieht schroff aus und einsam und starr, bei allem herrlichen Baumwuchs, wie einer jener sogenannten »Mondkrater«.
    Ein Feldweg, den Castiletz jetzt bemerkte, führte in dessen Bezirk, nach rechts von der Straße abzweigend. Conrad schritt rasch zwischen den leeren Äckern dahin. Man kann sagen, daß er dabei geradezu unternehmend aussah, im Sportanzug mit kurzen Hosen und derben Schuhen. In der Tasche trug er eine Tafel Schokolade, Zigaretten, außerdem eine starke elektrische Lampe.
    Jetzt, am Morgen, war es frisch, die Sonne dünn und zart, Stille allenthalben, als sei sie von der Nacht her übriggeblieben. Der

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