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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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von drüben.
    »Sie können mich also mit Bestimmtheit dessen versichern, daß Louison am kritischen Abend keine Ohrgehänge trug?«
    »Mit Bestimmtheit. Es wäre für mich auffallend gewesen. Derartiges sieht man als Frau.«
    Castiletz dankte ihr noch viele Male und schloß das Gespräch. Als er auf den Platz vor dem Postamte und dem Bahnhof heraustrat, war die Sonne zu solchem Golde herangereift, daß sie wie eine platzende und über Ecken und Kanten herabträufende Frucht alles und jedes mit den Süßigkeiten des Herbstes übergoß und durch ihr webendes, fast körperhaft dichtes Licht den Ausblick nahm. Auf Conrad wirkte diese Flut nach dem angestrengten und langen Gespräch in der Zelle verwirrend. Er flüchtete in die Bahnhofswirtschaft und nahm eine Tasse Kaffee. Im einen Punkte schien ihm Maria Rosanka die Grundlagen jenes Baues von Schlußfolgerungen, die er so gerne mehren und festigen wollte, zu erhärten; im anderen – dem mit den Ohrringen – aber hatte sie ihm zunächst einen nicht geringen Stoß versetzt. Und ganz, wie bei Conrads erstem und überstürztem Eindringen in den Tunnel, wollte sich auch hier wieder unter allem eine Art Trichter öffnen, in welchem dieses ganze Unternehmen hier beinahe versank. Er begann, was er trieb, als äußerlich, als billig, als zu »hell« (gerade dieses Wort gebrauchte Castiletz in Gedanken!) zu empfinden, und hinter allem ahnte ihm plötzlich ein viel weiter ausholender, ein längerer, ein gründlicherer Weg. Seltsam genug: nicht einmal der doch außer Zweifel stehende Fund des Ohrringes rechtfertigte jetzt für Castiletz die Art, wie er hierher gekommen war, nämlich in einer sozusagen zufälligen Weise (ja, konnte er denn, bei geordneter Beschäftigung mit dem ganzen Falle, eine solche, wieder viel zu »dunkle«, überhastete Art des Vorgehens dulden?). Nun schien alles zu zerfließen, ja beinahe lächerlich zu werden, wie am vorhergehenden Tage in Maria Rosankas Atelier in der Stiftstraße. Jedoch, während hier schon eine wirkliche Trübnis hereinbrechen wollte, ein Gewölk der Mißstimmung, welches sich von allen Seiten aus jenen Räumen des Lebens heranzuwälzen schien, die keine eigentlich benennbaren Angelegenheiten, Einzelheiten, Gründe oder Anlässe mehr enthalten – gerade da zeigte sich am Rande dieses Trichters mit dem brauenden Grund ein fester Punkt, wie ein eingeschlagener heller Wegpflock und Richtungsweiser, den man endlich entdeckt:
    Ja (so sagte er sich), es hat ein Kampf stattgefunden in diesem ›Damenabteil‹, während man durch den Tunnel fuhr. Die Kassette, welche Louison noch im Tode an sich hielt, hat der Mörder ihr nicht zu entreißen vermocht. In dieser Kassette aber befanden sich auch die Ohrringe. Einer von ihnen fiel heraus, vielleicht in dem Augenblicke, als Louison gegen das offene Fenster taumelte, unter dem Schlag. Jedoch, der Verbrecher wird seine Beute sofort zugreifend gesichert haben, den Inhalt der Kassette herausraffend. Vielleicht war er noch im ersten Morgengrauen an Ort und Stelle, um Verstreutes zu finden. Der Überfall ist knapp vor der Ausfahrt aus dem Tunnel geglückt. Ja! (Jetzt sah er den verbreiterten, gekiesten, sauberen Platz zwischen den beiden Geleisen vor sich, wo die Signalglocke stand.) Hier konnte leicht alles gefunden werden. Den Hauptteil aber hat man, zusammengepackt, viel später und anderwärts aus dem Zuge geworfen, sei’s rechts oder links, vom Gange oder aus einem Abteil. Wahrscheinlich aus dem Abort. Wie aber? Dieser Peitz ist in Erfurt geruhig (und betrunken!) auf seinem Platz gesessen! Durchaus möglich. Er hatte einen zweiten Mann. Dieser ist bald ausgestiegen nach der Tat, um etwa zurückzufahren – samt der Beute. Sie brauchten gar nichts mehr abzuwerfen, es ist keineswegs notwendig, das anzunehmen. Vielleicht hat aber Peitz mit der ganzen Geschichte überhaupt nichts zu tun gehabt? Nein, das ist abzulehnen! Die Sache mit dem Coupeschlüssel Inkrats bleibt bestehen, und das hat dieser ganz ausgezeichnet gemacht, muß man sagen, muß man ihm lassen! Peitz blieb sitzen, um sich unverdächtig zu machen. Und am Schlusse hat er denn gepatzt. Meine nächste Reise geht nach Berlin: den Mann will ich mir ansehen. Hier aber im Tunnel ist nach diesen meinen Schlußfolgerungen schwerlich mehr etwas zu finden. Und wenngleich: würde es Neues aussagen? Nein. Das mit dem Ohrring ist einer von jenen glorreichen Zufällen, durch die oft Verbrechen ans Licht kamen. Sie werden den zweiten Ohrring wohl

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