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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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vermißt haben – und im Anfang mit nicht geringer Sorge, kaum des Wertes wegen, sondern weil er zumindest den Tatort einmal feststellte!
    Seine Gedanken liefen leicht, ja flüssig-spielend, wie die Zeilen eines Menschen, der beim Briefschreiben gut im Zuge ist. Er brach nun, sozusagen vollkommen beruhigt, ab und verließ die Wirtschaft. Die starke Anregung, unter welcher Castiletz stand, machte seinen Schritt länger, und so ging er im Sonnengold, das reif war wie eine saftige Birne im Baum (schmeckte hier die Luft nicht nach Obst?), immer weiter durch die Ortschaft. Rauch des Abends, würzig im Geruche, schwebte zwischen den geneigten Strahlen, im Hofe standen Hufschmied, Fuhrmann und Knecht, und unterm Gebälk hing der gelbe Mais in Reihen. Zwischen altem Gemäuer, schmalen Durchschlupfen, Steigen und Treppen zappelten die blonden Schöpfe der Kinder im Spiel, und das schwäbische Gesicht, klug und pfiffig, denkensbegabt, mit spitzer Nase wie eine alchimistische Retorte, blickte aus Torbogen und Fenster auf diese eigene laufende und springende Vergangenheit mit demselben lebensklugen Gleichmut wie auf die steilen, hochschultrigen alten Mauern, mit welchen die eine Hälfte des Städtchens sich an den Fluß stellte. Auf die andere Hälfte sah man hinüber, wenn man etwa, zwischen Buben, Mädeln und Hühnern, oben in der steilabfallenden ›Hinteren Gasse‹ stand; und nun wußte Castiletz wohl Bescheid, was des Ortes Ausdehnung betraf. Die wuchtig fußende Burg am Berg, die alten, verfallenen Stadtmauern dort drüben, weißlich hinter Weinbergen hinaufstufend, das alles schien mit seinen rückwärtigen Teilen wie ein blaues Gebälk vor die breite Brust der Ferne gebaut. Auch hier lagen schon zart und kühl die Schatten da und dort an einer alten Wand. Mit Lehm wurden von einigen großen und schönen Burschen die Fässer voll Weintrebern verstrichen und geschlossen, während den Fluß entlang eine Gänseherde watschelte, an Alter weder diesem Gebrauche des Lehms noch jenen Mauern was nachgebend, die nun gelöst in den Abend verschwammen und schon wie natürlich gewachsener Fels. Conrad schien’s, als sei er hier erst in den Süden gekommen und in eine milde, gewürzte Luft (die, wie ein Geigenboden, jede Stimme schwingen und hallen ließ, ob den Spielschrei der Kinder oder des Fuhrmanns Zuruf ans Pferd), ja, als sei es hier eigentlich viel italienischer als dort, jenseits der Alpen.
    Abends wurde Castiletz in der Wirtsstube zufällig mit dem Vorstande des Bahnhofs bekannt, einem lustigen, hübschen und umgänglichen Mann; und trotz Conrads nun glücklich bestehender »Theorie«, wonach im Tunnel weitere Funde nicht mehr zu erwarten waren, rührte sich doch gleichsam sein blaues Heft daheim im Schreibtisch, als er erfuhr, wer und wes Amtes jener war, der da wohlgelaunt über dem Abendtisch saß. Mit neuartiger Sicherheit und einem Geschick, das aus bisher unerschlossenen Castiletzschen Quellen floß – aber in letzter Zeit gebrauchte er schon recht munter solche Gaben! – wußte er das Gespräch freundlich zu drehen und zu wenden, und klagte dann sein Leid: ihm sei vor einiger Zeit, beim Durchfahren dieses Tunnels hier, ein kleiner Gegenstand beim offenen Fenster hinausgefallen, ein Zigarettenetui oder eigentlich Schnupftabaksdöslein (nun, man nimmt, was einem gerade einfällt, wenn’s zu reden gilt, und wo immer her man’s eben kriegt!). Ob vielleicht ein Streckenwärter solch ein Ding gefunden oder abgeliefert habe? Nein, hieß es, und ein Streckenwärter sei gerade derjenige Mensch, welcher am allerletzten etwas finden würde, was seitwärts der Geleise liegt, weil dessen Aufmerksamkeit ganz und gar nur auf die Schwellen, Schienen und deren Verbindungen miteinander gerichtet sei (dieses Kapitel hatte Conrad heute schon durchgenommen). Ob er wohl einmal mitgehen dürfe durch den Berg, wenn die Strecke wieder abgeschritten werde? (Bei dieser Gelegenheit erfuhr Conrad die Länge des Tunnels – es waren nur etwa fünf und ein halbes hundert Meter.) Dies sei nicht ohne weiteres möglich, sagte der Vorstand. Aber er würde versuchen, telephonisch die Bewilligung aus Heilbronn zu erhalten, welche er selbst nicht erteilen dürfe; Castiletz möge morgen um halb acht Uhr einmal auf den Bahnhof in die Fahrdienstleitung kommen; werde es erlaubt, so hätte er dann gleich den Zug hinüber zu der Station jenseits des Berges, von wo der Streckenläufer ausginge, und träfe rechtzeitig genug ein, um sich beim dortigen

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