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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Kamm das auseinandersträhnende Haar. Und von hier aus sah er den grünen Schaum der Bäume beim Virchowschen Krankenhause, stand nun am offenen Bahnsteig und fuhr in den bunten Wagen durch irgendwelche Ausgedehntheiten der Stadt, zwischen Böschungen, neben Gleisbündeln, Fabriken und weithin aus dem Blickfelde sich drehenden Häuserzeilen.
    Jedoch war es keineswegs nur die Vorstadt, welche von Conrad gesucht wurde. Auch in dem Viertel, zum Beispiel, wo Günther wohnte, wanderte er gerne umher. Flüchtig kannte er dieses ja von den nächtlichen Vergnügungsfahrten. Und hier begegnete sich Castiletz sozusagen einmal selbst, noch dazu in einer gar nicht lang vergangenen Gestalt: der Chor einer großen Kirche romanischen Stiles schien auf das ihm gegenüberliegende Gebäude ganz ebenso durch Ausstrahlung gewirkt zu haben wie die Kirche daheim in der Wackenroderstraße auf die dahinterliegende Inkratsche Wohnstätte: jenes Haus, darin sich unten ein Caf6 befand (das für manche Leute damals viel, für Castiletz aber rein gar nichts bedeutete), trug völlig die gleiche Gravität zur Schau, mit Bogen und Kapitellen.
    Conrad schritt um die Gedächtniskirche herum, gelangte heil durch die sich nach allen Seiten in der Dämmerung eröffnende, von Fahrzeugen durchbrummte Weiträumigkeit, verließ die Oberwelt und ging nun auf dem unterirdischen Bahnsteige hin und her, wo es im Vergleich zu den Straßen recht friedlich war und nach abgeschlossener Luft roch wie in einer Schachtel.
    Rasch hatte er sich an Berlin gewöhnt, wie man sich eben an eine Weltstadt überhaupt schneller gewöhnt als an eine kleine, durch die in jener viel glatter geschliffenen Bahnen des Lebens: bequeme Kurzschlüsse etwa im Keller und auf dem Dache. Bei der ›Stadtmitte‹ stieg Castiletz richtig und kundig aus. Im Fußgängertunnel sah er, just in der Gegenrichtung an ihm vorbeieilend: einen brettchensteifen braunen Hut.
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    Nun, Conrad eilte selbst (warum, ist unerfindlich, wahrscheinlich, weil alle hier eilten). Jedoch, zugleich mit dem augenblicklichen und unanfechtbaren Entschlusse, Peitz zu folgen – eine Verpflichtung! – erhob sich in ihm eine Art Gewißheit, daß es nun, nach solchem zufälligen Treffen, zu irgendeiner Entscheidung kommen mußte. Castiletz sah mit Schrecken das rote Geländer, welches die beiden in entgegengesetzter Richtung eilenden Ströme der Fußgänger trennte; aber im nächsten Augenblicke bemerkte er schon die dazwischen freigelassenen Durchgänge und wechselte hinüber.
    Mit etwas bewegtem Atem stand er hinter Peitz am vorderen Ende des Bahnsteiges, sah den niederen gelben Zug heranfliegen, gelangte mit in den ersten Wagen. Und späterhin zu Pankow in die gleiche Wirtschaft wie früher. Wieder saßen sie als Nachbarn, biertrinkend, durch eine Wand getrennt.
    Hier geschah‘s (und es war zu beobachten, wenn man mit dem Stuhle wippte!), daß Peitz in offensichtlich vollkommener Seelenruhe ein großes Etui aus der Tasche zog – ein anderes als beim ersten Male! – und dieses vor sich auf den Tisch hinlegte. Noch hatte Castiletz nach solchem Anblicke seine Fassung nicht ganz wiedergewonnen, als der rote Filzvorhang der Türe zurückgeschlagen wurde, durch welche dann niemand anderer hereinkam als Herr Doktor Albert Lehnder. Rasch zwischen den Tischen durchgehend, in dunklem Mantel und steifem Hute, ohne Conrad irgend zu beachten oder zu bemerken, trat er in Peitzens Abteil, sagte nachlässig »’n Abend«, legte den Mantel ab, setzte sich nieder und fügte hinzu: »Aha, da ist ja das Ding. Lassen Sie mal sehen.«
    Das Erscheinen Alberts wirkte auf Conrad sofort grenzenlos ernüchternd und enttäuschend, ja, von vornherein als ein Schlußpunkt hinter allen seinen Bestrebungen. Dies ging so weit, daß er auf die Möglichkeit, den Schmuck wippend betrachten zu können, beinahe verzichtete; obendrein saß Lehnder auf dem gleichen Platze wie beim ersten Male das Mädchen, über das geöffnete Etui gebeugt, welches solchermaßen dem Blicke entzogen wurde.
    »Ich gebe Ihnen die Quittung«, sagte Lehnder (er sprach ziemlich laut mit seinem sonoren Organ), »und dann werden wir ja sehen. Versprechen kann ich Ihnen natürlich nichts.«
    Nun hörte man Peitz: »Wäre Ihnen jedenfalls ganz außerordentlich verbunden, Herr Doktor.« Seine Stimme klang wirklich nicht viel anders als am Telephon, damals bei Günther, höchst gequetscht, mit einem gewissermaßen gelben Tone bei »ä« und »e«. »Ich bitte Sie, mich jetzt

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