Ein Mord den jeder begeht
expolitum« klang. Castiletz empfand Hunger, und zwar in der Form des Verlangens nach einem Stück Brot oder Gebäck, was dem überaus vornehmen Kellner erst begreiflich gemacht werden mußte, mit dem Erfolge zweier winziger Brötchen auf einem Teller. Als Conrad diese etwas enttäuscht betrachtete, bemerkte Wedderkopp:
»Ja, Kimmicher gibt’s hier keene, Castiletz.« Die alten Reutlinger lachten. Der Umstand aber, daß Wedderkopp dies hier aussprach, wirkte auf Castiletz im Augenblicke, ja für die ganze Nacht verändernd. Als sie beim nächsten »Tapetenwechsel« in ein Tanzlokal kamen, das aussah wie eine große Höhlung in Schlagsahne, ließ er sich ohne weiteres von Grumbach dazu gebrauchen, eine der Nymphen »vorzutanzen« (wobei jemand das Wort »Probegalopp« fallen ließ), die dem Generaldirektor gefiel und von welcher er behauptete, man müsse sie tanzen sehen, wozu er selbst wahrscheinlich zu faul war. Conrad trank Sekt und tanzte mit der rothaarigen Person, die jetzt wie parfümiertes Stroh in seinen Armen lag. Die Musik saß mit ihren blitzenden Instrumenten übereinandergestaffelt in einer Art gleichseitigem Dreieck von goldener Farbe, das in der Schlagsahne ausgespart war. Das Mädchen fragte ihn beim Tanze irgendwas, sein Verhältnis zu diesen Herren betreffend, und Conrad sagte »Sekretär«. Über den Tänzern schwebte, von der Decke hängend, ein mit weißen Atlasbändern umwickelter mächtiger grüner Kranz. Conrads Verfassung war für ihn selbst verwunderlich. Sie war empfangend, offen wie ein Trichter, bereit, mutig. Wofür bereit, wofür mutig? Einen Augenblick lang wurde ihm so, als senke sich nun dieser Kranz, kleiner werdend, von der Decke herab auf seinen Scheitel. Das wirkte der Sekt, eine schwache Flüssigkeit wohl im Vergleich zu dem »ohnehin vernünftigsten Getränk«, aber dafür viel, und noch mehr. Das Tanzen schien Castiletz Beliebtheit einzutragen, er hatte den Anfang gemacht, nun folgten die anderen nach. »Pröstchen, Benjamin!« rief man.
So ging es in dieser oder jener Nacht, wobei man zwischen je zwei erleuchteten Höhlungen von Schlagsahne oder roter Seide in die schnurrende und schaukelnde Dunkelheit der Automobile fiel, kurze Strecken unanschaulich durchmessend, haltend und neu auftauchend in anders gefärbtem Licht. Man suchte auch weniger Elegantes, und am Alexanderplatz bestand der Prunk in schwülem rotem Schein und kleinen Springbrunnen, welche in die ständig sich drehenden Beleuchtungskörper fielen: für einen bereits Schwankenden etwa nicht gerade ein aufrichtender Anblick.
Günthern konnte Conrad erst am dritten Tage Wiedersehen und des längeren sprechen, infolge einer Pause, die eintrat, da man nun, nach erreichter, wenn auch etwas brüchiger Einigung im Konferenzzimmer, sich immerhin stark genug fühlte, den Leuten von der anderen Partei privat zu begegnen (»Jute und das übrige Zeug«, um mit Eisenmann zu reden). Diese waren kaum vor Anfang nächster Woche zu erwarten. Conrad ließ sich einmal morgens mit Marianne telephonisch verbinden und sagte ihr, daß er mindestens noch zehn Tage werde hier bleiben müssen. Die Zeit für Peitz mußte gesichert sein. Mariannes Stimme am Telephon war freundlich und heiter, welcher Umstand auf Castiletz in gar nicht geringem Grade aufmunternd und beruhigend wirkte.
Ligharts und Quiek waren kaum zu bändigen. Sie schrien, sprangen im Zimmer herum, Günther fluchte und nannte sich einen Idioten. Denn Henry Peitz hatte auf ein telephonisches Gespräch hin merkwürdigerweise nicht mehr angebissen mit seinem Schmuck, vielmehr allerhand Ausflüchte und viel zu tun gehabt. Am gleichen Abend stand Conrad in der Kochstraße, auf dem Gehsteige gegenüber von Peitzens Haus, und hatte Glück: noch vor Geschäftsschluß kam dieser hervorspaziert. Wieder ging die Reise nach Pankow, wieder stand Castiletz am Anfang des Bahnsteiges hinter dem brettchensteifen braunen Hute, und wieder endete die Reise bei dem Haustor in jenem »tirolischen« Stadtviertel. Peitz verschwand hier, ohne vorher sonstwo eingetreten zu sein.
So schien alles zu stehen, oder sich auf der Stelle zu drehen, und man war offensichtlich aus dem Flußbett der fördernden Zufälle irgendwie herausgeraten. Conrad mußte sich wieder an die Tage zu Lauffen erinnern, wo der erste, gleichsam Hals über Kopf getane Vorstoß den großen Erfolg in Gestalt jenes Fundes im Tunnel gebracht, die bedachtsame und vorsätzliche Begehung desselben dann aber nicht das geringste mehr
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