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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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jetzt fester aus, derber... das dachte Castiletz deutlich und in diesen Worten. Der Mann hatte sich neben ihm auf die Bank niedergelassen. »Sie erinnern sich meiner wohl nicht?« sagte er.
    »Doch«, antwortete Castiletz. In ihm war plötzlich ein Hohlraum freigelegt, ein empfangender, aufnehmender, welcher keine Bedeckung, keinen Widerstand gegen sein Vorhandensein mehr kannte und zuließ. »Von einer Reise«, fügte er nach, ja, er stieß es eigentlich hervor.
    »Ja«, sagte der Bahnbeamte; und plötzlich, jetzt erst, wurde es Castiletz klar, in welcher außerordentlichen Erregung dieser Mann sich befand, der hier mit ihm sprach, und wie gewaltig die Anstrengungen waren, die er machte, um seinen Zustand zu bekämpfen. Zudem empfand Conrad – und das mit einer Deutlichkeit bis zu der Grenze wirklichen Erschreckens! – daß er nun schon seit einer geraumen Weile schärfer sah, ja, einfach mehr sah als früher. Dieser klarere Blick schien aus der völligen Leere der letzten Minuten geboren worden zu sein, einer Leere, die sich vor allem füllen wollte und darum gegen nichts abweisend war, alles ungehindert an sich heranließ.
    »Sie fuhren mehrmals nach Pankow, in letzter Zeit«, brachte der Beamte nun heraus, jedes Wort eine geleistete Arbeit. Jedoch sprach er genau und geordnet. »Ich bin Zugfahrer. Ich sah Sie vom Führerstand aus. Dreimal. Sie standen immer am vordersten Teile des Bahnsteiges ›Stadtmitte‹. Ich muß Sie sprechen. Ich konnte es nie, ich war ja im Dienst. Es war entsetzlich. Ich mußte Sie ja sprechen. Jetzt bin ich dienstfrei. Ich sah Sie, als ich schon in einen anderen Wagen steigen wollte, im letzten Augenblicke. Ich bitte Sie um eine Unterredung. Ich bitte Sie, mit mir bei der zweitnächsten Station auszusteigen. Das ist ›Danziger Straße‹. Ich werde Ihnen erklären, warum gerade dort. Ich – kann hier nicht sprechen.«
    Seine Aussprache paßte nicht zu seinem Stande, sie war zu genau, auch in der Erregung. Castiletz verwunderte das nun nicht mehr.
    »Ich werde mit Ihnen aussteigen«, sagte er.
    »Ich danke Ihnen, Herr«, sagte der Zugfahrer. Auf seinen Backenknochen stand jetzt deutlich sichtbar der Schweiß. Der Zug hatte indessen gehalten und setzte sich nun wieder in Bewegung.
    »Wissen Sie ...«, sagte der Zugfahrer, »wissen Sie – Sie müssen es freilich nicht wissen, aber ich weiß es, o Gott – wer Louison Veik war?«
    »Ich weiß es«, sagte Castiletz, die Worte stark betonend.
    Es wurde nicht mehr gesprochen. Bei der Station ›Danziger Straße‹, unter der kurzen, die Geleise auf dem Viadukt überdachenden Halle, in deren Bogen schmutzig-blau der kältere Nachthimmel lag, stiegen sie aus; beinahe leer eröffnete sich die Ausgedehntheit der Straßen, rechts voraus lief eine Parkmauer, stand vom Lichte angestrahltes Grün.
    »Ich darf Ihnen jetzt, bitte, wohl mitteilen, wohin wir nun gehen?« sagte Conrads Begleiter bescheiden, der offenbar durch das Ausbleiben jeder diesbezüglichen Frage in Erstaunen versetzt war. Jedoch Castiletz, neben ihm auf dem breiten Bürgersteige dahinschreitend, war im Augenblicke durchaus andersartig beschäftigt: er versuchte zu begreifen, wie eigentlich jene .. . romantischen, abenteuersuchenden Spaziergänge bei ihm zustande gekommen waren, welche er einst, dahinten in der Ferne der Zeiten, und nun erst vor einigen Stunden wieder, unternommen hatte. Er sah die Brücke vor sich, wie einen Kamm über den auseinandersträhnenden Geleisen, Alt-Moabit, das Kriminalgebäude, dann wieder die Haltestelle – ja, Putlitz-Straße! – dort bei der Brücke, mit dem offenen Bahnsteig und den bunten rasch heranfliegenden Wagen der Ringbahn: das alles lag nicht um Stunden oder Tage, auch nicht um Jahre (damals, zur richtigen Kragen- und Krawattenzeit!) zurück – sondern es war einfach und schlechthin abgebrochen, es war unbegreiflich, nicht einmal mehr lächerlich. Was er hier erlebte, wie er hier nun ging, das gehörte bereits einem anderen Menschen, einem anderen, einem zweiten Leben an: eine Entdeckung, die, wie es schien, alles und jedes jetzt schon hinter sich ließ.
    »Ich erlaube mir, Herr, Sie in die Wohnung meiner – Braut zu führen. Und zwar deshalb, weil ich irgendwo sonst, in einer Wirtschaft etwa, nicht imstande wäre ... zu sprechen. Zudem soll Ihnen das Mädchen auch als Bezeugerin dessen dienen, was ich sagen werde. Ich bin jetzt ruhig, Gott sei Dank. Mir war vorhin übel. Sie kennen das Mädchen ja, denn damals, in dem

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