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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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zutage gefördert hatte.
    Fast jeden Morgen war Castiletz jetzt beim Aufstehen und während des Ankleidens mit zwei Dingen beschäftigt, die zwar nichts miteinander zu tun hatten, einander jedoch stets auf dem Fuße folgten. Zuerst beim Erwachen am Morgen, wenn er das Telephon neben dem Bett erblickte, meldete sich unverzüglich der Gedanke, daß Albert Lehnder nun endlich anzuklingeln sei; das war noch immer unerledigt, er schob es vor sich her, wie einen Ball, den man mit den Füßen treibt. Aber diesen Ball aufzuheben, diesen Telephonapparat in Bewegung zu setzen, dazu langte es nicht (die Nummer der Kanzlei stand sogar im Notizbuch, Tante Berta hatte sie ihm geschrieben, als sie erfuhr, daß Conrad nach Berlin fahren würde). Ja, er kam dahinter, als er einmal mit bemerkenswerter Ruhe tiefer in sich hineinhorchte, daß hier eine Art fast unüberwindlicher Trägheit herrschte, daß hier eine unsichtbare Wand vorhanden war. Das zweite, was ihn am Morgen bekümmerte, stand gewissermaßen mit dem Herrn von Hohenlocher im Zusammenhang und hatte seinen Ort im Badezimmer.
    Conrad bemerkte, daß er einen Bauch bekam. Dies war nun freilich unter dem strengen sportlichen Maße festgestellt. Jedoch, der flache Schild begann sich ein ganz klein wenig mehr vorzuwölben als früher, und jene Rillen an den Leisten, die ihn bei einem normalen Männerkörper begrenzen und auf welche die Bildhauer der Alten so großen Wert legten, schienen sich verwischen zu wollen. Herr von Hohenlocher konnte also auf die Dauer doch eine Möglichkeit gewinnen, einen bloßen Ansatz allerdings (in des Wortes eigentlichster Bedeutung!), aus Conrad noch jene Type zu bilden, die Erbtanten und Verbindungen züchtet und einen Direktorsposten bekleidet... kurz, in jeder Hinsicht jenen pädagogischen Richtlinien entsprach, deren Castiletz den Regierungsrat verdächtigt hatte, bei einer Unterredung über Frau Erika von Spresse und das diesbezügliche Vermögen.
    Man darf es als Gegenbewegung infolge solcher unerfreulicher Entdeckungen werten – die sich sogleich selbst übertrieben, so daß er nicht etwa sah, was der Spiegel in Wirklichkeit zeigte, sondern schon einen Direktorsbauch in Prozessionen vor sich herwandern – man darf es als Gegenbewegung werten, wenn Conrad jetzt eine Art Appell richtete an jene frühere Abenteuerlust seiner Knabenzeit, der das Leben stets mit der Stirnseite sich zugekehrt hatte, auf leuchtend überall von bedeutenden Benennungen, eine Abenteuerlust, welcher hier die große Stadt den Tummelplatz wahrhaft ausreichend darbot. Der Appell verfing bis zu einem gewissen Grade. Es hatten einsame Spaziergänge und Entdeckungsfahrten stattzufinden – auch außerhalb Peitzscher Geleise: und sie fanden statt (jedoch, zu einer eigentlichen Kragen – und Krawattenzeit kam es hier freilich nicht mehr). Einmal, an einem spätsonnigen Nachmittage – es wurde wärmer, und das war förderlich, alle Dinge bekamen jetzt einen verschwimmenden Rand! – einmal also war Conrad auch draußen in Pankow, ohne nun gerade hinter Peitz her zu sein, sondern lediglich um den Hintergrund des Romanes bei Lichte zu besehen. Die außerordentliche Weiträumigkeit dieser Vorstadt, die mächtige Breite ihrer Hauptstraße erweckten den Eindruck, als fächerte die Stadt hier an ihrem Rande auseinander, wie mit offenem Trichtermund den Wind der märkischen Landschaft da draußen in sich einsaugend. Als Castiletz vom Endbahnhofe heraufstieg und an die Oberwelt kam, brach die Sonne von links her, aus einer langen Straße, hervor wie durch eine mit Goldglut gefüllte Pforte. Das glasige Frühjahrsgrün der Bäume stand auf seinem höchsten, durchleuchtetsten Ton.
    Auch hier wollte er sich an irgend etwas erinnern, vieles lag ihm jetzt nahe, ja, mit jener Klarheit, die man den alten Leuten nachsagt, wenn sie ihrer Jugend gedenken: während die Mitte des Lebens im Schatten bleibt, erglänzen Anfang und Ende. Auf seinen Streifzügen gelangte Conrad unter anderem in die Gegend des Lehrter Bahnhofes, dessen halbzylindrischer Riesenkörper bei sonniger Öde in diesem stillen Teile der Stadt gestreckt lag; er wanderte durch Moabit, vorbei am Ziegelbau des berühmten Gerichtsgebäudes, dem gegenüber die bleichen Bogen der Walderseeschen Villa in ihrem Garten schliefen. Er fragte sich durch, wandte sich nach rechts, kam hoch hinaus in Wind und Weitblick auf die Brücke, welche den unten durchziehenden breiten Strom der Geleise kaum noch zusammenzuhalten schien, wie ein

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