Ein Mord den jeder begeht
da stillesteht, und im Umschwung der Jahre, wie auf einer sich drehenden Scheibe, flitzen immer wieder die gleichen Prüfungstermine vorbei, während der zu bewältigende Stoff quillt. Über jeden Menschen fällt her, was der Ebene zusteht, auf der er sich jeweils befindet; und irgendeine Katastrophe mittleren Grads, gemindertes Geld oder das Ableben des Oheims, der bisher den Wechsel bestritt, genügt dann, um unseren Jünger aus dem Tempel des Asklepios zu drängen. Es ist nicht schmerzhaft. Leute dieser Art haben im Grunde eine sehr feste und sichere Beziehung zum Dasein, und ihre eigene runde Philosophie, die ihnen erlaubt, bei höchst verschiedenen Fenstern ins Leben hineinzuschauen, dieses jedoch stets als dasselbe wieder zu erkennen und recht gerne zu haben. Die Weiche klappt, das bisherige Gleis wird verlassen, ein neues blitzt lang voraus im Schlaglicht, bis zu dem dunklen Tunnelmund, von dem man freilich weiß, daß es hier glatt hindurchgeht: aus einem Studenten ist etwa ein Motorführer bei der »Untergrund« geworden, wie man in Berlin sagt, während es in New York »Subway« heißt oder etwa in Wien »die Stadtbahn«. Nun verläßt der Zug den dröhnenden Schlauch, dessen Wände in der Geschwindigkeit aus Rauch zu bestehen schienen, welchen es hier gar nicht gibt: etwas geneigt liegt das eilende Fahrzeug jetzt in der Kurve, schief tritt auch von unten das schwankende Leuchtbild der Stadt herauf, wie ein gegitterter Rost mit den weithin fliehenden Straßenzügen kreuz und quer, mit den zahllosen scharfen und trüben, kranken und zuckenden Erdensternen. So sah man’s einst anderswo und von den Hügeln und so zwischendurch, während man die Kommerslieder sang ... es ist ein gleiches.
Nein, das waren keine Castiletzschen Ecken, denn hier herrschte eine Befangenheit weit höheren Grades im vorgelegten Geleise. Und nie wäre bei Conrad auch nur der Gedanke aufgetaucht, in ein anderes hinüberzuwechseln als jenes, welches der Vater schon vorlängst gebaut hatte: auf seinen Reisen und bei seinen Beziehungen zu alten Geschäftsfreunden durch Jahre klug bedacht. Auch Conrad hatte er ja reisen lassen, und wohlausgestattet. Auch allerhand Tanten waren immer von Vorteil. Der Sohn verließ die Reutlinger Schule nach zwei Jahren – für ihn war’s eine seltsam leere Zeit dort – und konnte gleich danach, als Volontär zunächst, in ein großes Werk eintreten, in einer süddeutschen Mittelstadt. Es wäre für einen anderen jungen Mann so leicht nicht gewesen, an den Beginn gerade dieser Rinne zu gelangen, deren weiterer Lauf dem alten Castiletz manchen freundlichen Ausblick zu eröffnen schien, und das nicht nur in rein beruflicher Hinsicht. Aber davon sprach er nichts, Herr Lorenz; der übrigens sehr gealtert war und jetzt einen grauweißen Kopf hatte.
Bei strömendem Regen – weicher ja Glück bringen soll, wie man sagt – verließ Conrad nach seiner Ankunft den Bahnhof, der im flüchtigen Eindruck durch seinen niederen, aber weitläufigen Ziegelbau ein wenig an den Münchener Hauptbahnhof erinnern konnte. Er ging über einen von hüpfender Nässe spiegelnden asphaltierten Platz, hinter dem Hausdiener, der sein Gepäck trug, und hatte dabei das Empfinden, die eigentliche Stadt selbst müsse sich jetzt linker Hand in länglicher Ausdehnung befinden. Später zeigte sich, daß es so war. Das kleine Hotel lag rechts auf der anderen Seite des Platzes, dem Bahnhofe schräg gegenüber.
Erst im hellen Vorraum besann er sich – ein beim Verlassen des Bahnhofes und auf dem Wege hierher Versäumtes gleichsam nachholend – daß er ja in diese Stadt nicht zum ersten Male kam. Die Verwandten. Ja, er hatte auch einen Brief zu bestellen, der Brief war im Koffer, mit anderen Briefen. An Herren Geheimen Kommerzienrat Veik vor allem. Morgen zu schicklicher Zeit mußte er im Werke vorsprechen.
Conrad aß zur Nacht im Speisezimmer, allein, es saß sonst niemand da. Draußen der Platz war dunkel, lag unter leisem Rauschen bei verstärktem Regen. Der Oberkellner, welcher Conrad bediente, war von etwas säuerlicher Hochanständigkeit, mit Brillen. Da es unter den gegebenen Umständen nicht anziehend war, länger sitzen zu bleiben, ließ Conrad eine Tasse Kaffee auf sein Zimmer bringen und ging hinauf.
Er öffnete den Koffer und legte den Brief für morgen bereit.
Dann blieb er in der Mitte des Zimmers stehen, sah sich kurz um und verharrte sodann ohne Bewegung, schräg vor sich niederblickend. Genau und deutlich, wie man beim
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