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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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und stärker schwellenden, warmen und am Ende heißen Ring um die Augen, den dann die Tränen spülen und kühlen. Das Wesentliche des Ereignisses erlebte er wie hinter vielen Wänden, als einen Druck, der in eine bestimmte Richtung deuten wollte. Hier zum erstenmal nämlich – das ahnte ihm – war in seinem Leben wirklich etwas geschehen, stand am Wege ein eingeschlagener Pfahl und zerfällte jenen in ein Vorher und in ein Nachher. Was bisher gewesen, so vermeinte Conrad, hätte alles sich gewissermaßen noch rückgängig machen lassen. Dies hier war endgültig. Diese Endgültigkeit war neu, sie drückte als Fremdkörper.
    Er bemerkte jetzt, daß sein Vater, der am Fußende des Grabes stand, in die Krempe seines Hutes biß, ohne es wohl zu wissen, mit einem Gesicht, das klein und naß war, wie das eines schreienden Säuglings.
    Einige Wochen später, auf dem roten Diwan, hüllte sich Frau Hedeleg in ein wärmendes Pelzchen der Selbstzerfleischung nach dem anderen, denn von Conrad her zog es empfindlich. Ihr letzter Bericht damals war übrigens mehr als ausführlich gewesen, so daß Conrad das Ende kaum hatte erwarten können, während ihrer Wiederholungen memorierend, schließlich aber Frau Anny unterbrechend, als die Reprisen sich zu häufen begannen. Gleichwohl, die vielen und zum Teile schon recht weitgehenden Einzelheiten hatten es doch zusammen vermocht, Conrads wach gewordenes Mißtrauen zu lähmen und die ganze Geschichte mit ihrem Wahrheitscharakter neuerlich zu durchtränken.
    »Ich kann deinem Vater nicht mehr in die Augen sehen«, sagte sie.
    Er hatte genau beobachtet, daß Anny seit etwa einer Viertelstunde schon an einem Schluchzen präparatorisch arbeitete. Als die Hervorbringung endlich gelang, sagte er:
    »Du brauchst ihm ja nicht in die Augen zu sehen.«
    »Wie ...?« fragte Frau Anny, für welche hier ein leerer Raum entstand.
    »Schau in deine Offerte«, sagte Conrad.
    Nun, diese Sache mit der Hedeleg taugte nichts mehr. Zudem kam jetzt vor Ostern die Zeit der Abschluß – oder Reifeprüfung auf der »Handelsakademie‹ (so nannte man die Anstalt), und wenn Conrad für diese Prüfung auch fast nichts zu lernen hatte, so bedurfte er doch einer kleinen Zeit der Sammlung. Er nahm Bedacht darauf, sie reichlich übrig zu behalten, um dann beruhigt sein zu können hinsichtlich dessen, daß nicht irgendwo irgendwas ungeordnet und außer acht gelassen bleibe, welches sich dann bei der mündlichen Prüfung, oder bei der Klausurarbeit gegen ihn in Bewegung setzen könnte. Aber es setzte sich nichts in Bewegung, die Durchführung war ebenso geordnet wie die getroffenen Dispositionen, kurz, er bestand die Prüfung mit Glanz. Lehnder hatte es anders nicht erwartet. »Daß deine arme Mutter dies nicht noch erleben konnte!« sagte Lorenz Castiletz, umarmte Conrad und weinte. Sein Gesicht schien zusammengeschrumpft und in der letzten Zeit endgültig und wirklich kleiner geworden zu sein. Die Hedeleg war aus Conrads Gesichtskreis entschwunden, da er während der letzten Wochen vor der Prüfung das Büro nicht mehr aufgesucht hatte. Jetzt also, zu den Osterfeiertagen, verließ er als Entlaßschüler für immer jenes neuzeitliche Gebäude mit der großen, hellen Vorhalle, darin die gedrungenen, mattsilbrig glänzenden Heizkörper standen.
    Conrad fuhr aufs Land und war dort allein. Denn Tante Berta wohnte jetzt in der Stadt und nahm sich in vorbildlicher Weise des Vaters an, der bei dem bloßen Gedanken, hinauszufahren, über den so friedlichen und heiteren Erinnerungen des letzten Sommers klagend zusammengebrochen war. Als einem jungen Menschen, der die Mutter kürzlich verloren, ward Conrad die natürliche Anteilnahme des Volkes entgegengebracht von den Mägden, Gärtnersleuten und Knechten, und es zeigte sich dabei, was man schon immer gewußt, daß diese Leute alle auf ihre Art Frau Leontine sehr gerne gemocht hatten, mit einer Anhänglichkeit, die jedesmal gleich zu Beginn des Sommeraufenthaltes der Familie hervorgetreten war, durch die Art schon, wie man sie begrüßte, die Nachricht von ihrem Eintreffen weitergab und während der folgenden Wochen dicke bunte Blumensträuße in alle Ecken ihres Zimmers stellte.
    Noch waren die Wälder grau, aber nicht tot, sondern von innen glänzend in ihrer Feuchtigkeit, jeder Raum zwischen Baum und Baum stark spürbar als ein Geöffnetes, in dessen hellhörige Stille die Wasser rauschten. Im Zimmer standen die Palmkätzchen. Die Sonne lag im leeren Hause.
    Volk läßt

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