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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Üben auf dem Klaviere eine Tonleiter durchspielt, so klimperte er durch alle seine sieben Sachen in Gedanken: ja, doch, es war alles in Ordnung.
    Es klopfte. Conrad erschrak. Er hatte sich durch Augenblicke beim Überdenken seiner Briefe, Besuche, Gänge, seines Gepäcks, seines Geldes (dieses war reichlich!) in wirklicher und tiefer Versunkenheit befunden.
    Er trank aus der Kaffeetasse, am Tische stehend. Nun ging er zum Fenster. Es war naß, man sah nichts. Er öffnete es. Die Regennacht trat jetzt mit ihren wässerigen, tropfenden, klatschenden und trommelnden Geräuschen klar an die Grenze des hell erleuchteten Raumes. Dieses Haus hier stand übereck. Man sah zwei oder drei Fenster schwach erleuchtet. Unten lag ein Hof, Flaschenkisten übereinander, ein Blechdach, aus dem Hause schien nach rückwärts Licht aufs Gerümpel, vielleicht aus der Küche. Conrad sah zu den Fenstern hinüber. Deutlich fiel ihm – bei so andersartigem Blicke hier in den Regen – seine Tante Berta ein, in der Umkleidekabine damals neben der seinen. Dann Reutlingen. Er wunderte sich. Dort war’s gewesen, wie wenn die Buben flache Steine übers Wasser tanzen lassen mit geschicktem Wurf: alles obenhin. Dabei hatte Conrad in Reutlingen drei Liebschaften hinter sich gebracht, man könnte auch sagen glücklich absolviert, nämlich insoferne, als da nichts ungeordnet oder etwa unabgeschlossen hinterblieben war. Mit einem von diesen Mädchen war er mehrmals auf der Achalm gewesen. Es war nichts, es war ihm völlig gleichgültig: so gleichgültig etwa wie die Tische im Garten einer Wirtschaft, wo er oft gegessen hatte – und das war jetzt auch das letzte, was ihm aus der Reutlinger Zeit wiederkam. Er schloß das Fenster. Der leichte weiße Vorhang rieselte. Plötzlich durchdrang ihn Wärme. Das Zimmer war sehr hell. Er bereitete den Anzug für morgen vor, hängte ihn mit Sorgfalt über einen Kleiderbügel. Dann wusch er das Gesicht, putzte die Zähne. Zwischen den frischen Bettüchern liegend, in die Stille lauschend, überkam’s ihn plötzlich: er fühlte sich wie auf dem vorgewölbtesten Teil einer erhabenen Bildhauerarbeit. Er fühlte sein Leben, das jetzt kommen würde, er liebte diese Stadt, die er kaum kannte, weil er in ihr zum ersten Male allein leben konnte, hier, mit seinen Koffern, mit, mit – also sozusagen mit Kragen und Krawatte. Und im gleichen Augenblick schon wuchs Conrad aus jenem Relief noch mehr heraus und erwuchs zur romantischen Person. Er löschte das Licht, preßte einen Augenblick lang die Wange in das Kissen. »Ja, das ist’s, natürlich – leben«, flüsterte er. Und schlief.
    15
    Im Sprechzimmer der Tuchfabrik Carl Theodor Veik, zu welchem Raum man über eine etwas enge und steile Treppe gelangte, stand auf dem Mahagonitischchen, um das sich vier glatte und magere Armsessel gruppierten, in der Mitte einer jener Apparate, die alles Nötige zum Rauchen enthalten, jedoch noch nie den persönlichen Bedürfnissen irgendeines Rauchers wirklich entsprochen haben, Apparate, die man mitunter zum Geschenk erhält, und früher oder später ins Sprechzimmer stellt, wenn man etwa ein Firmenchef, oder ins Wartezimmer, wenn man ein Zahnarzt ist. Solche Dinge sind vertretungsweise Andeutungen der Humanität in einer Umgebung, die an Sachlichkeit sonst nichts mehr zu wünschen übrig läßt. Ganz das gleiche wäre auch von der Stechpalme zu sagen, die in einer Ecke des Carl Theodor Veikschen Sprechzimmers ihrer ähnlich gearteten Funktion oblag.
    Nachdem der Diener die Türe hinter Conrad Castiletz geschlossen hatte, ging dieser noch ein paar Schritte weiter, dem Trägheitsgesetz folgend, und blieb erst vor dem einen Fenster stehen. Von hier sah man an einem vorspringenden Teile des Verwaltungsgebäudes links vorbei, hinab auf die gleichmäßig gereihten Dächer des Shedbaues, die, dem Zuge einer schrägen und sehr korrekten Schriftzeile verwandt, weithin auf und ab zackten. Dahinter gab es ansteigende freie Hügel und Bäume, zum Teil noch grün.
    Das Bild war demjenigen überraschend ähnlich, welches sich vom Stiegenhause der Reutlinger Textilschule geboten hatte, etwa vom dritten Stockwerk aus, wo in den Glasschränken die vielen alten und neuen Modelle von allerlei Webstühlen und Spinnereimaschinen gestanden hatten; auch hier war der Blick rechts durch das Gebäude beschränkt gewesen, unten liefen ganz die gleichen Dächer hin, und dahinter erhob sich, allerdings wesentlich höher, die Achalm mit Weingärten und

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