Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren:
Vom Netzwerk:
die neuen Toten ruhen, scheucht sie nicht auf durch immer wiederholte Erwähnung. Wenn man vom letzten Sommer sprach, genügte es, daß Frau Leontine dabei mitgedacht war. Der alte Gärtner lächelte einmal und sagte, daß übrigens jenes Fräulein aus der Stadt, mit dem der junge Herr im verwichenen Herbst hier viel spazierengegangen sei – wie er sich wohl noch erinnern könne? – vor einigen Wochen gestorben wäre, in Salzburg. Er wisse es von der Frau Rumpler, wo jene gewohnt, die sei auch mit ihr entfernt verwandt gewesen.
    »Alle sterben«, dachte Conrad wörtlich, und dann erschrak er tief, denn er hatte auf solche Weise gleich die Mutter mitgedacht. Gestorben in Salzburg. Freilich wußte er von Lage und Beschaffenheit dieser Stadt aus der Schule, vom Berchtesgadener Land, von Reichenhall. Aber jetzt sah er zuinnerst Salzburg in einer völlig ebenen Gegend, eine Burg von weißer trockener Farbe in einer Steppe, einer Salzsteppe.
    »Dürfte krank gewesen sein, auf der Brust«, meinte der Gärtner.
    Conrad verfiel keineswegs auf den Gedanken, sich bei der Wäscherin Rumpler etwa näher zu erkundigen. Jedoch führte ihn ein Spaziergang am Wassersteig entlang, neben dem stark rauschenden Bache, und er wandte sich in das Seitental und ging durch den leeren kühlen Nadelwald leicht bergan. Das Schweigen der durchgebogen hangenden dunklen Äste blieb von dem jetzt lauten Glucksen und Plätschern des kleinen Gerinnes unberührt, das hier dem Bach zueilte, die winzigen Fälle und Becken sprachen ihr vielfältig wechselndes Wort wie auf sich selbst zurückgedrängt, durch den Druck der allseits sie umlagernden Stille.
    Conrad gelangte zu der Wasserscheide. Hier traten die Nadelbäume zurück. Er schaute den fallenden Hang hinab, über die noch stumpfen, erdigen Wiesen, zwischen denen Laubgehölz sich hinzog, Bäume und Sträucher kahl, wie wirres Haar, in der Farbe kaum unterschieden von den grauen Brettern einer Bank dort vor den Bäumen, und doch von einem inneren Leuchten gespannt, das dem toten Holze fehlte. Dort unten, im überall tief in den Boden und die verstreuten Dinge sickernden Licht, lag das Sträßlein und daran vereinzelte Gehöfte. Conrad hob den Blick und sah zum Hange gegenüber: strichweis und ganz zart zeigte sich am absinkenden Hügelschwung das erste scharfe und helle Grün des Frühlings.

Zweiter Teil
    14
    Der alte Castiletz lebte lange genug, um sein Söhnchen – nun, jetzt war es eigentlich schon ein Mannsbild und größer als er selbst! – auf ein wohlvorbereitetes Geleis zu setzen, nachdem Conrad das Technikum für Textilindustrie im schwäbischen Reutlingen hinter sich gebracht hatte und so was wie ein »Textilingenieur« geworden war. Auf ein wohlvorbereitetes Geleis: ganz wie man einst die kleinen Wägelchen der Spielzeugeisenbahn auf ihre Schienen gestellt hatte, und da rollten sie denn. Es gibt Leute, bei denen nie herauskommt, ob sie lebenstüchtig oder schwach sind, und wo ein genaues Urteil in dieser Hinsicht einfach nicht gefällt werden kann, wissenschaftliche Anständigkeit vorausgesetzt. Solche Leute stoßen nirgends an und sich selbst nie eine Ecke ab. Keine Stärke, keine Schwäche kommt bei ihnen zum Fleisch der Tatsachen. Es sind jene Schüler, die mitlaufen und ihren Eltern keinerlei Sorge machen; die Lehrer haben sich auch an sie gewöhnt, ohne eigentlich so ganz genau zu wissen, ob die Burschen nun wirklich was können oder nicht. Es sind auch jene Rekruten, die am wenigsten angebrüllt werden. Es sind die Leute, denen man nicht auf den Zahn fühlt. Ein solcher war Conrad Castiletz. Sehr zum Unterschied von anderen, die in den Familien einen seufzerreichen Gesprächsstoff bereitzustellen keinesfalls verabsäumen, von denen man nie recht weiß, aus welcher Mittelschule sie eben hinausgeflogen sind, und in welche sie nun wieder aufgenommen wurden, um neuerlich durchzufallen, und die späterhin so Fakultäten wie Lebensziele weit rascher wechseln als etwa ein Kirgise seine Hemden. Als ein besonders fruchtbarer Ausgangspunkt, um welchen sich dann die Windrose aller Möglichkeiten ausbreitet, erscheint für Leute von solcher Art beispielsweise das Studium der Heilkunde oder Medizin. Ihr Lehrgebäude umfaßt so viele einzelne Wohnungen, Zimmer und Kammern und öffnet sich mit so zahlreichen und bedeutenden Ausfallstoren in ganz andere Gebiete, daß der junge Mensch in eine außerordentliche Bewegung um sich selbst herum versetzt werden kann. Jedoch plötzlich ist er es, der

Weitere Kostenlose Bücher