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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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Augenblicke, daß sein Vater – lebe. Dieses Wissen haben die Söhne im allgemeinen nur als blasse, glatte Selbstverständlichkeit.
    Jedoch, als er eintrat, der Vater, verwandelte er sich zurück in die ihm zukommende Gestalt, nämlich die einer Instanz, wenn auch einer geliebten. Daran konnte nichts ändern, daß Conrad ihn unvermerkt scharf ansah und sozusagen pflichtgemäß einige beobachtende Feststellungen zu machen suchte, die recht dünn ausfielen. An den Schläfen schien dem alten Herrn das jetzt schon stark durchsilberte Lockenhaar ein wenig anzukleben, und man konnte vielleicht sagen, daß er einen angestrengten Eindruck mache. Jedoch blickte er recht munter unter die Stürze von Nikkei, welche das Mädchen Sophie jetzt von den Schüsseln hob, um zu sehen, was es gebe, und begann, schon essend, mit der Mutter zu plaudern und zu lachen. Mochte es nun der allzu fertige Eindruck sein, den jeder ausgewachsene oder gar ältere Mensch auf den jungen macht, der, wenn auch selbst schon vielfach in erborgter Weise lebend, gleichwohl immer noch dazu neigt, bei allen Erscheinungen Echtheit vorauszusetzen – jedenfalls konnte das von Conrad Gewußte hier und jetzt nicht mehr anschaulich werden. War es ihm früher sozusagen aus der Mitte des tragenden Bewußtseins in irgendeine Ecke gerutscht, so schien dieses Wissen nun auf dem besten Wege, daraus ganz zu verschwinden.
    In seinem Zimmer, im Dunkeln, als er schon zu Bette lag, traf – wie ein Pfeil von der Zimmerdecke her – der Gedanke bei ihm ein, daß Anny alles erlogen haben könnte. Er sah jetzt ihr Gesicht vor sich und darin die Möglichkeit dazu. Dieses Gesicht war dunkel, bei heller Farbe der Haut doch dunkel, in seinen Winkeln lag dieselbe Dunkelheit, wie – in dem schmutzigen Grau der großen Fabrikstore, an welchen er mit Ida vorbeigegangen war. Deren Gesicht war hell, er sah es jetzt vor sich.
    Aber, wenn sie schon gelogen hatte, die Hedeleg (diesen Namen gebrauchte er in seinen Gedanken), woher konnte sie wissen, daß sein Vater gerade heute abend verspätet zum Abendbrot kommen würde?
    Doch, sie konnte alles wissen, sie arbeitete seit zehn Jahren mit dem Vater, sie wußte, wann irgendwelche große Holländer oder Engländer, die auf der Durchreise sich befanden, im Hotel den Vater noch abends erwarteten, der ihre Webereien vertrat. Oft hatte die Hedeleg sogar mitgehen müssen zu derlei Besprechungen, als Stenographin. Sie konnte alles im voraus wissen.
    Conrad versuchte genauer nachzudenken und schlief ein.
    13
    Zehn Tage etwa nach diesen »Ereignissen«, gegen Abend, in wenigen Stunden und sozusagen in aller Stille, starb Frau Leontine Castiletz. Das Segel entschwand endgültig unter dem Horizont, es kam nicht wieder. In der verbliebenen Leere des Himmelsrandes zerflossen einige aufgekrauste weiße Windwolken.
    Man nannte als Ursache des jähen Todes eine Trombose.
    Es gibt in jeder Verwandtschaft Gemütsmenschen, und ein solcher bemerkte denn, daß die Blümerante vielleicht einfach vergessen habe, weiterzuleben, und daher gestorben sei, also aus Zerstreutheit.
    Das Unglück für den Gatten und für den Sohn, mit solcher Plötzlichkeit und Unreife in ihr Leben gestürzt, stand wie saures Obst im Munde, verbunden mit dem geheimen Glauben, daß man es wohl noch abwenden könne, wenn man nur mit genügender Kraft sich weigere, es anzunehmen. So hellsichtig und zugleich respektlos durchschaut manchmal der Mensch das Relative aller sogenannten Tatsachen, die unter den Erscheinungen des Lebens gewissermaßen das gemeine Volk bilden, allerdings ein Volk mit derben Fäusten.
    In der Castiletzschen Wohnung stand das Ereignis durch vierzehn Tage wie ein überall unsichtbar ausgespanntes Sprungtuch, das von allem und jedem zurückwarf und abhielt, keinen Aufenthalt, keine Tätigkeit möglich ließ.
    Vater und Sohn besuchten das Grab mit Blumen, unserer stummen Gebärdensprache den Toten gegenüber, von der wir doch hoffen, daß sie verstanden werde.
    Der Himmel dieses ersten Vorfrühlingstages wies jene zerfahrenen und ineinander verwaschenen Wolkengebilde auf, die dem Schwanken der Erde um diese Jahreszeit, zwischen Tod und Leben, entsprechen. An den weißen Wänden der Einsegnungshalle zwischen den Gräberfeldern stand, im Widerspiel zu himmlischen Vorgängen, bald ein klarer Schein, bald ein sanftes Grau.
    Conrad hatte, seit einer bestimmten Nacht in seiner Knabenzeit, nicht mehr geweint. Auch der Verlust seiner Mutter erzeugte bei ihm keinen schwächer

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