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Ein Mord den jeder begeht

Ein Mord den jeder begeht

Titel: Ein Mord den jeder begeht Kostenlos Bücher Online Lesen
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sagte Inkrat. Zum erstenmal an diesem Abende sah man ihn lachen. Seine langen Knochen kamen in Bewegung, er löste sich vom Kamin los und versank, die Gliedmaßen ausstreckend, in einem mit Leder gepolsterten Korbsessel.
    Die Schubert erschien mit schwarzem Kaffee und den Sektgläsern. Auch der Baurat Lissenbrech hatte nun einen bequemen Armstuhl aufgesucht und saß nicht mehr hämsterlich um den eigenen Bauch gesammelt, sondern zurückgelehnt, wobei ein beachtliches Volumen vortrat. Nur Doktor Velten blieb wie früher auf dem Diwan verteilt, während die anderen jetzt einen Halbkreis um den Trinktisch bildeten.
    Auf diesem stand, neben anderen Rauchereien, auch eine offene Schachtel heller kleiner Importen. Castiletz, den übrigens wieder einmal »die Romantik der Situation« zu tragen begann, wie das Wasser einen Schwimmer – während in diesem Wasser gleichzeitig irgendeine unbestimmte Vorstellung umtrieb, welche mit dem Namen »Benjamin« verknüpft schien – Castiletz also beugte sich vor, nahm eine von den kleinen Zigarren, betätigte den Abschneider und steckte die Zigarre in den Mund. Es war erstmalig, er fühlte den ganzen Reiz des Neuen; es war erstmalig, daß er anderswo so ein Ding entzündete als bei seinem Schwiegervater und somit gewissermaßen selbständig. Ja, es war nicht weniger erstmalig und ein Abschnitt wie – das Verbrennen jener Pierrot-Karte des Günther Ligharts. Daran dachte er jetzt.
    »Seit wann rauchen Sie?« fragte Herr von Hohenlocher. Und da Conrad, statt eine richtige Antwort zu geben – die übrigens genau zu erteilen ja gar nicht so einfach gewesen wäre – nur vielsagend lächelte, fügte Herr von Hohenlocher hinzu: »wie ein Kommerzienrat!«
    »Der Sachverhalt war der folgende und ist in wenigen Worten zu erzählen«, sagte Inkrat, nachdem er in seiner neuen Körperstellung wieder bewegungslos wie früher sich befestigt hatte. »Am 25. Juli des Jahres 1921 lief in Erfurt um etwa halb fünf Uhr früh, wie täglich, der von Stuttgart kommende und nach Berlin bestimmte Nachtschnellzug ein. Bei der Revision fand sich ein Abteil zweiter Klasse im vorletzten Wagen des Zuges verschlossen. Der Schaffner öffnete mit dem Coupeschlüssel und erblickte darin die Leiche eines jungen Mädchens, deren Kopf eine furchtbar klaffende Verletzung zeigte. Alles war voll Blut, auf dem Boden lag ein Handkoffer, dessen Inhalt herausgefallen und verstreut war. Zwischen den verkrampften Händen hielt die Tote eine leere Kassette oder Schachtel. Das Fenster war herabgelassen. Die Leiche lag schräg auf der, im Sinne der Fahrtrichtung, rückwärtigen Polsterbank. Die Ermordete schien sich im Todeskampf stark herumgeworfen zu haben. Der Beamte bewahrte die Fassung, verschloß das Abteil sofort wieder, verständigte die Bahnhofsleitung, und eine Viertelstunde später waren wir mit der Kommission an Ort und Stelle.«
    »Sie waren dabei, ich meine bei der Mordkommission?« sagte Herr von Hohenlocher. »Das wußte ich gar nicht.«
    »Ja, ich war damals in Erfurt zugeteilt. Ein Jahr nach der ganzen Geschichte wurde ich hierher versetzt, auf meinen Wunsch. Die Untersuchung mußte naturgemäß auch mit den Eltern der Ermordeten eine lebhafte Fühlungnahme bringen; ich war in dieser Sache mehrmals in Leipzig, bei Ihren nunmehrigen Angehörigen, Herr Castiletz, welche damals dort lebten.«
    »Was stellte nun die Kommission fest?« fragte Doktor Velten vom Diwan herüber.
    »Ihre Aufgabe war ja zunächst nur, den Tatbestand genau aufzunehmen und etwa sofort nötige Maßnahmen zu treffen. Unmittelbar vorher gab es jedoch einen bemerkenswerten Zwischenfall, welcher auf die einzige Spur führte, die man in dieser Sache finden und verfolgen konnte, wenn auch vergebens, wie sich später zeigte. Der Zug war selbstverständlich aufgehalten worden, alle Fahrgäste hatten ihre Personalien anzugeben und sich auszuweisen. Die beiden letzten Wagen wurden abgekoppelt und verschoben, zudem durfte niemand, der sich darin befand, sie verlassen, vielmehr mußten sich die Reisenden in dem einen Waggon versammeln: das alles hatten wir, sogleich nach dem Einlangen der Meldung, durch die am Bahnhofe im Dienste stehenden Polizeiorgane veranlaßt; nicht zur Freude der Reisenden, wie sich leicht denken läßt. Die Polizei allerdings weiß ganz gut, wie weit der Laie davon entfernt ist, auch nur zu ahnen, welch eine subtile Sache solch eine Untersuchung sein oder werden kann; die Polizei also darf nicht im falschen Augenblicke Wert auf

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