Ein Mord den jeder begeht
Fachmann, war also zur Nachprüfung nicht befähigt. Der Unterschied soll darin gelegen haben, daß es sich beim Eisenbahnruß um ein reines Verbrennungsprodukt handelt, um den Niederschlag von Rauch. Nun, mag das gewesen sein wie immer: jedenfalls begannen hier die Schwierigkeiten und Unsicherheiten. Ärztlich wurde festgestellt, daß ›der Tod vor wenigen Stunden eingetreten sei, möglicherweise aber schon vor Mitternacht.‹ Das ließ theoretisch immer noch die ganze Strecke zwischen Stuttgart und Erfurt in Frage kommen. Denn auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof ist Louison Veik zum letzten Male lebend gesehen worden, ich meine, von jemand, der sie kannte, von einer Freundin namens Maria Rosanka nämlich, welche gekommen war, um Fräulein Veik auf der Durchreise am Bahnsteig zu begrüßen. Jene Rosanka blieb bei ihr bis zur Abfahrt des Zuges um halb zehn Uhr abends.«
»Die Rosanka!« rief Hohenlocher. »Das ist doch die Malerin?!«
»Ganz recht«, sagte Doktor Inkrat.
»Reizend und total verrückt«, bemerkte Hohenlocher. »Sie genießt ihre eigene Komik, und das schätze ich an ihr. Groß, dünn, braun, eine Frau aus Leder und dabei mit einem breiten, seltsam törichten Gesicht. Ich wußte gar nicht, daß Louison Veik mit ihr befreundet war.«
»Immerhin wichtige Zeugin«, sagte Doktor Inkrat.
»Lebt dieses Fräulein Rosanka noch in Stuttgart?« fragte Castiletz artig, aber eindringlich.
»Und ob!« rief Hohenlocher. »Ja, die gibt es dort noch. Eben stellt sie wieder aus, wie ich neulich in der Zeitung las. Aber nun erzählen Sie weiter, Mr. Holmes. Was war mit Peitz?«
»Auf ihn komme ich gleich zu sprechen. – Ich sagte also, daß wir fast die ganze Strecke in Betracht ziehen mußten; das bedeutet: Absuchen nach der vielleicht aus dem Zuge geworfenen Beute; das gleiche konnte übrigens auch mit dem Mordwerkzeug geschehen sein, ebenso mit Handtüchern, Taschentüchern oder sonstigen Wäschestücken, die etwa zum Entfernen von Blutspuren benutzt worden waren. Doch sind diese Einzelheiten hier nicht wichtig, es gibt ihrer noch mehr, die stets in solchen Fällen strenge beachtet werden. Bei alledem hatten wir ein besonders scharfes Auge auf die Strecke durch den Thüringer Wald. Sie war von dem Zuge im Morgengrauen zurückgelegt worden, zu einer Zeit also, wo selbst die schlaflosesten Reisenden ein wenig einzunicken pflegen; außerdem zeigt die Erfahrung, daß Eisenbahnräuber nicht selten Tunnelstrecken bevorzugen, wegen des Lärms, der einzelne Geräusche oder etwa einen Schrei unhörbar macht. Hier wurde nun mit größter Sorgfalt gesucht, allerdings ohne jeden Erfolg. Selbstverständlich wendete die Polizei auch ihre Aufmerksamkeit dahin, ob während der Nacht irgendwo jemand ausgestiegen sei, dessen Fahrtberechtigung eine weitere gewesen wäre; indessen konnte nichts Derartiges festgestellt werden.«
»Wie ist es überhaupt zu erklären«, fragte jetzt Herr von Hohenlocher, »daß eine solche Menge wertvoller Schmuckstücke, wie Louison Veik sie in der bewußten Kassette mit sich führte, völlig verschwinden kann, ohne daß jemals ein einziges Stück davon später da oder dort wieder auftaucht?«
»Gerade das scheint mir nicht so unbegreiflich«, erwiderte Inkrat. »Natürlich gaben wir eine genaue Beschreibung des Schmuckes an alle in Betracht kommenden Stellen hinaus, ohne allerdings an diese Maßnahme besondere Erwartungen zu knüpfen. Gerade eine derartige Beute, mit hohem Edelstein – und Goldwerte, doch ohne einen einmaligen und einzigartigen Kunstwert, ist außerordentlich schwer zu verfolgen, da sie allermeist nie mehr in ihrer ursprünglichen Form auftaucht. Ein Verbrecher, der eines Eisenbahnraubes fähig ist, geht dann nicht ins Pfandhaus. Derartige Stücke werden oft bis in ihre kleinsten Bruchteile zerlegt, ja sogar eingeschmolzen, und finden erst Perle um Perle, Stein um Stein den Weg in die Gerinne der Hehlerei oder ins Ausland. Hier übrigens waren es Steine, vorwiegend Smaragden, die in den letzten Jahren enorm im Werte gestiegen sind; Perlen gab es gar keine dabei (Castiletz dachte bei diesen Worten, daß hier vielleicht eine der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen Louison und Marianne vorliege, die auch keine Perlen mochte). Gerade der Umstand, daß von der Beute nicht das kleinste Stück mehr auftauchte, ließ an einen Berufsverbrecher denken, einen Mann mit guten Verbindungen und weiser Zurückhaltung sozusagen. Das alles, leider, paßte auf unseren Peitz aber ganz und gar nicht.
Weitere Kostenlose Bücher