Ein Mord den jeder begeht
ich anderer Meinung. Gegen jeden von uns läuft sozusagen irgendwo und irgendwie ein Akt, der von Zeit zu Zeit Vermerke bekommt, Ergänzungen und Richtungsweiser. Ist er einmal abgeschlossen, dann zeigt sich wahrscheinlich, daß schon im Wasserzeichen des Papiers alles gestanden hatte, was später darauf geschrieben worden war. Und, um jetzt auf die Geheimpolizei zurückzukommen – so ist diese gewissermaßen nur ein Symbol und um nichts mehr als die Sichtbarmachung einer ganz allgemeinen Tatsache des Lebens an einer bestimmten Stelle und in Form einer notwendigen Institution.«
»Gegen Sie läuft hier ein Akt, Herr Doktor Inkrat, nämlich aus der Flasche«, sagte Herr von Hohenlocher und reichte ihm das Glas: nun endlich bewegte sich Varanus aridus, als er es entgegennahm und unverzüglich leertrank.
»Es ist erstaunlich«, sagte Doktor Velten.
»Was ist erstaunlich?« fragte der Baurat.
»Nun . . . die Sicherheit des Urteils. Eben jetzt, zum Beispiel. Das war ausgezeichnet, allen Ernstes, Doktor Inkrat. Aber jedes Urteil, jede Meinung, das alles bleibt für mich letzten Endes in gewissem Sinne erstaunlich, ob nun mehr oder weniger scharf und treffend ... auch wegen der Geschwindigkeit. Es würde mich sehr interessieren, zu erfahren, ob Sie . . . alles das, was Sie jetzt eben sagten, schon einmal in Worten, in ähnlichen Worten vielleicht, gedacht haben?«
Die Unsicherheit und Nachdenklichkeit, mit welcher er sprach, schloß jeden Beigeschmack von Ironie aus; wiederum schien Doktor Velten nur laut zu meditieren.
»Ich habe es seinerzeit sogar mit fast eben denselben Worten niedergeschrieben, als Versuch einer Einleitung zu jenem Buche, das ich einmal verfassen wollte«, sagte der Varan. »Indessen, ich glaube zu wissen, wo Sie hinauswollen, Doktor, und ich muß gestehen, daß ich in dem Punkte ähnlich empfinde wie Sie.«
»Passen Sie gut auf, Castiletz«, sagte Hohenlocher zwischendurch, während er einschenkte, »hier können Sie auch außer dem Saufen noch was lernen.«
»Ja – und was halten Sie nun davon . . . ich meine, was ist es, Ihrer Meinung nach, was da von uns als – erstaunlich empfunden wird?«
»Ich bin kein Psychiater«, erwiderte der Briefkasten langsam. »Ich kann also die Sache nicht in der Weise auseinanderlegen, wie Sie es vielleicht vermöchten, sondern nur logisch. Unser Staunen über die raschen und vielen Urteile, welche überall rund um uns und in bezug auf alles und jedes abgegeben werden, kommt, wie ich glaube, daher, daß wir sozusagen immer wieder auf die Urteilsform hereinfallen, in welcher all diese Lebensäußerungen erfolgen, die jedoch eben nur der Form nach und mit ihrer logischen Geste – wozu ja die Sprache zwingt! – als Urteile auftreten, innen aber mit ganz der gleichen Substanz erfüllt sind wie irgendeine der vielen Zuckungen des Lebens, im Angriff oder in der Verteidigung, im Versuch der Behauptung des eigenen Werts oder der Herabsetzung des fremden, im Versuche, laut zu sagen, was man derzeit selbst gerne glauben würde, weil es für die eigene Lebenskraft stärkend wäre . . . kurz: was wir, immer wieder von der logischen Form, in der hier das ganz unlogische Leben auftritt, fasziniert, für ›Urteile‹ halten, das ist wesentlich gar nicht verschieden von der raschen Handbewegung etwa, mit welcher man die Mücke abwehrt, oder von der gleitenden Veränderung des Gesichtsausdruckes beim Gespräch mit verschiedenen und verschiedenartigen Personen in einer Gesellschaft . . . und hier wundern wir uns nicht über die Geschwindigkeit der automatischen Reaktion. Jene ›Urteile‹ aber sind durchaus gar nichts anderes, nur eben in ein logisches Kostüm geschlüpft – mit welchem die Sprache jede Reaktion bei ihrem Austritte durch den Mund bekleidet. Ein willkürlich geschöpftes Probierglas voll trüber Flüssigkeit des Lebens, nur eben in der logischen Eprouvette, das sind die ›Urteile‹; sie kommen mindestens so rasch zustande wie ein Hüsteln, ein Lächeln, ein Ärger. Ja, sie sind im wesentlichen nichts anderes als der Zustand des Teints, den wir gerade zeigen, oder unsere zeitweilige Vorliebe, auf der rechten Seite und dann wieder links einzuschlafen. In der Tat, die Urteilsweise der meisten Menschen besteht einfach darin, daß sie ihre eigenen Ausdünstungen generalisieren.«
»Prost!« sagte Herr von Hohenlocher.
»Kritik der Urteilskraft«, bemerkte der Baurat.
»Nein, sondern der Scheinurteile«, sagte Inkrat unbewegt.
»Gestatten Sie«,
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