Ein nackter Arsch
einmal auf seinem Programm. Er wusste gar nicht, warum er so sicher war, die Mollets zu Hause anzutreffen. Beide waren wohl noch nicht im Rentenalter. Aber beide waren weit über fünfzig. Bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage war es eher unwahrscheinlich, dass beide noch eine reguläre Arbeitsstelle hatten. Und so war Robert Simarek wenig verwundert, dass sich sogleich die Türe öffnete, als er den kleinen Vorgarten in der Moltkestraße 22 betreten hatte.
„Ich habe Ihr Auto gehört“, begrüßte ihn Erna Mollet. Sie trug eine blaue Kittelschürze und reichte ihm zur Begrüßung den Ärmel ihres graublauen Sweatshirts, denn an ihren Händen klebte feuchte Blumenerde.
„Ich muss was tun“, sagte sie, und es klang nicht nach einer Entschuldigung, sondern eher nach einer sachlichen Feststellung. „Das Leben geht für mich und Gabriel ja noch weiter. Und das Umtopfen meiner selbstgezogenen Avocado-Bäumchen schiebe ich jetzt schon ziemlich lange vor mich her. Außerdem lenkt es ein bisschen ab. So kann ich Kraft sammeln, denn die Beerdigung müssen wir auch noch überstehen.“
„Sie wissen bereits, dass die Kölner Rechtsmedizin die Leiche von Gesine zur Bestattung freigegeben hat?“ Der Kommissar war eigentlich nicht überrascht.
„Wir haben einen hiesigen Bestatter beauftragt, sich um die Überführung zu kümmern. Ein guter Freund von uns. Der hat in Köln nachgefragt, und man hat ihn gleich nach der Freigabe informiert. Am Freitagmorgen ist die Beerdigung. Gabriel ist gerade unterwegs, um ein paar Dinge zu regeln.“
Erna Mollet machte, wie auch bei Simareks letztem Besuch, einen sehr gefassten Eindruck. Das erleichterte es dem Kommissar, gleich zur Sache zu kommen.
„Frau Mollet, wir haben mittlerweile herausbekommen, dass Gesine ein Verhältnis mit ihrem Chef hatte.“
„Waren Sie deshalb am Sonntag hier? Sie haben da den Tod von Schmidtbauer gar nicht erwähnt. Das habe ich erst gestern im Radio gehört.“
„Nein, ich habe erst durch Sie erfahren, dass Gesine bei ASP gearbeitet und dann vor zwei Jahren gekündigt hat. Vorher wussten wir nichts davon. Aber wir müssen natürlich jetzt allen Spuren nachgehen. Und was wir bislang herausgefunden haben, klingt, als habe Schmidtbauer Ihre Tochter stark unter Druck gesetzt. Man könnte sagen, er hat erheblich zum Freitod Ihrer Tochter beigetragen.“
„Und jetzt vermuten Sie einen Zusammenhang, weil beide zur gleichen Zeit ums Leben kamen?“
„Ich kann diesen Zusammenhang nicht ausschließen, die Zeitgleichheit kann aber auch ein seltsamer Zufall sein.“
„Sie meinen, wenn Gesine vom Tod Schmidtbauers gewusst hätte, könnte sie noch leben?“ Erna Mollets Augen wurden feucht. Doch sie hatte sich schnell wieder im Griff.
„Alles das werden wir wohl kaum klären können. Ich glaube auch nicht, dass es einen logischen Zusammenhang im Ablauf zwischen dem Freitod in Köln und dem Mord in Saarbrücken gibt. Aber ich glaube, dass beide Ereignisse Teil einer gemeinsamen Geschichte sind. Und die versuche ich zu entschlüsseln.“
„Ich habe geahnt, dass sie mit der ‚unglücklichen Liebe‘ ihren Chef gemeint hat. Wir haben nie darüber gesprochen. Aber es lag nahe, das zu vermuten.“
„Wieso?“
„Na ja, Sie war viel unterwegs für ASP . Und meistens alleine mit ihrem Chef. Das brachte die Arbeit als persönliche Assistentin so mit sich. Sie waren eigentlich überall zusammen. Rom, Madrid, Paris. Da kommen einem schon so ein paar Gedanken. Aber Gesine hätte darüber nie mit mir gesprochen. Und mit Gabriel schon gar nicht.“
„Und es gab auch keine Hinweise, nachdem Gesine bei ASP gekündigt hatte?“
„Sie hat nur gesagt, sie kann da nicht mehr hin zu ASP . Alles Weitere hat sie ihrer Psychotherapeutin erzählt…“
„…und der Puppe“, ergänzte der Kommissar gedankenverloren.
„Ja, der Puppe. Ich habe sogar noch das Foto, das Gesine von der Puppe gemacht hat. Merkwürdig, was man so alles aufhebt.“ Sie betrachtete das Foto nachdenklich und legte es zurück zu Papieren und anderen Fotos auf die Kommode.
Simarek merkte, dass ihn dieser Besuch nicht weitergebracht hatte. Aber er hatte ihn bestätigt in dem, was er wusste und zu wissen glaubte. Gesine war tief in die Vergangenheit und in das Leben von Schmidtbauer eingetaucht. Was sie dabei erfuhr und mit ihm erlebte, hatte ihr persönliches Unglück noch größer gemacht. Sie war in einer Flut von eigenen und fremden Gefühlen ertrunken. Der eigene und der fremde
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