Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
mit ihren Stöcken, die ihre Knie entlasteten und die Schmerzen erträglicher machten. Während wir Meter für Meter des nicht enden wollenden Weges zurücklegten, setzte leichter Regen ein. Beim Versuch, mein Regencape über mich und den Rucksack zu ziehen, stellte ich fest, dass es kein einfaches Unterfangen war. Inge und ich halfen uns gegenseitig bei der Prozedur. Glücklicherweise entschied sich der Regen für eine Mäßigung seiner Aktivität. Um vier waren wir in Belorado. Die Herberge, in der noch einige Betten frei waren, hatte in früheren Zeiten als Theater gedient. Sie befindet sich unmittelbar neben der alten Kirche und wird von Schweizer Pilgerfreunden geleitet.
Die liebenswürdige Herbergsmutter empfing uns mit offenen Armen und zeigte uns, wo sich Betten und die Dusche befanden. Ich war gerade im Begriff, meinen Schlafsack auszubreiten, als ich einen Pilger wieder erkannte, der in seinem Bett lag. Es war einer von dreien, die mir in Santo Domingo mit ihrem Schnarchen den Schlaf geraubt hatten. Das muss ich mir nicht noch mal antun, dachte ich und flüchtete mit dem Schlafsack in ein anderes Zimmer.
Um sieben stand ich mit mehreren anderen Pilgern, die unschwer an Sandalen und Bekleidung auszumachen waren, vor einem Restaurant und wartete auf Einlass. Es wunderte mich immer wieder, wie gepflegt die meisten Pilger trotz des schweißtreibenden Wandertages nach einer Dusche aussahen. Eigenartigerweise sahen zerknautschte Hemden und Hosen, die den lieben langen Tag im Rucksack verstaut waren, nach kurzer Zeit des Tragens wieder recht passabel aus. Der Körper übernahm die Funktion des Bügelns.
Nun wurde das Restaurant geöffnet. Mit etwa zwanzig anderen Pilgern stieg ich die Treppe zum Speisesaal hinauf und setzte mich ans Kopfende eines Tisches mit acht Sitzplätzen. Zu meiner Linken gesellte sich eine hübsche blauäugige Frau aus Kalifornien, die der Meinung war, dass ich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Pierce Brosnan hätte, was mir nicht viel sagte, weil ich in den letzten Jahren meinen Kino- und Fernsehkonsum eingeschränkt hatte. Ihr gegenüber nahmen ihre beiden Töchter, um die zwanzig, Platz. Das andere Kopfende besetzte ein großer, kräftiger Mittsechziger, der sich als Norman vorstellte und vor seiner Pensionierung als Polizist in London gearbeitet hatte.
An jenem Abend machte ich die Bekanntschaft eines ganz besonderen Menschen, den ich gleich in mein Herz schloss. Weil ich seinen Namen nicht kannte, jedoch wusste, dass er Brasilianer war, nannte ich ihn »Papa Brasil«. Papa Brasil war um die sechzig. Seine Erscheinung war wahrlich eine außergewöhnliche, und seine bloße Anwesenheit beglückte alle, die um ihn herum waren. Stets hatte er ein Lächeln in seinem braunen Gesicht. Die Augen strahlten eine besondere Wärme aus. Das brasilianische Duo vervollständigte Lazarus, ein junger Mann mit pechschwarzem Haar und Vollbart. An der Art, wie die Frauen ihn ansahen, war leicht auszumachen, welche Wirkung er auf das weibliche Geschlecht hatte. Neben ihm saß ein Belgier, der ein wenig Deutsch sprach und mir hin und wieder Teile der lebhaften Konversation, die in Englisch geführt wurde, übersetzte. Während die anderen redeten, schaute ich mir bewusst die Gesichter an und fühlte mich glücklich in ihrer Mitte.
Norman parodierte auf seine unnachahmlich humorvolle Art, wie Peregrinos, die es früh morgens eilig hatten, um fünf aus ihren Betten sprangen. Der ganze Saal stimmte in unser Gelächter ein. Das frühe Aufstehen einiger weniger, die vor allen anderen ein Bett in der nächsten Herberge ergattern wollten, wurde immer mehr zum Ärgernis, weil sie alle aufweckten. Es war keine Seltenheit, dass sich Pilger abends früh ins Bett legten und die später Eintreffenden, die sich unterhielten, vehement zur Ruhe aufforderten. Wenn dieselbigen allerdings am frühen Morgen um fünf oder sechs mit ihrem Gerede, Plastiktütenrascheln und grellen Taschenlampen alle anderen aufweckten, zeigten sie wenig Toleranz.
Jeder macht seine eigenen Erfahrungen während der Pilgerschaft. Alle lernen dazu, selbst wenn es dem einen oder anderen nicht gleich bewusst ist. Es ist kein Zufall, dass gerade dieser oder jener, wie auch ich, auf den Weg geführt worden ist. Wie und wodurch auch immer. Es kann kein Zufall sein, dass Menschen, die sich zuvor nie begegnet sind, wichtige und tiefgründige Gespräche miteinander führen, ein großes Vertrauen dem Anderen entgegenbringen und sich ihm
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