Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
öffnen. Bestimmte Menschen sollen, ja müssen sich zu einem Zeitpunkt in ihrem Leben begegnen, um etwas ganz Spezielles auszutauschen, um zu klären, zu geben und zu helfen. Mancher Satz, manches Wort haben Leben verändert. Menschen, die ich gerade mal einige Augenblicke kannte, waren mir so vertraut, als wenn ich sie seit ewigen Zeiten kennen würde. Ja, manchmal empfand ich eine Liebe zu ihnen, wie sie Eltern ihren Kindern gegenüber oder Geschwister füreinander fühlen. Alles nur Zufall? Bald waren alle Augen auf unseren Tisch gerichtet, weil unsere Fröhlichkeit weder zu überhören noch zu übersehen war. Norman bot ein Song-Repertoire aus den 60ern dar. Es waren überwiegend Lieder von den Beatles, die jeder mitsingen konnte. Irgendwann übernahmen, wie nicht anders zu erwarten, die beiden Brasilianer den Musikpart, indem sie uns Lieder aus ihrer Heimat präsentierten.
Beim Blick in den Speisesaal realisierte ich einmal mehr, dass Menschen aus vielen Nationen friedlich miteinander speisten, redeten, lachten und sangen. Es geht doch, dachte ich. Ja, der Jakobsweg ist ein Weg der Liebe, der Verständigung und des Friedens. Er ist zudem ein Pfad der Selbstfindung und ein Lehrweg. Ich sah meine Pilgerschaft mittlerweile als besonderes Geschenk an. Ich ahnte, dass der Jakobsweg noch vieles in sich verbarg. Dies war wahrscheinlich die Ursache für meine tiefen Gefühle, die ich nicht einzuordnen vermochte und die mich zuweilen überwältigten. Nachdem jeder sein Lieblingslied vorgetragen hatte, wurde auch ich aufgefordert, zu singen. Natürlich bot ich mein Peregrinolied dar, das der ganze Saal mit einem Applaus bedachte. Ein Pilger wies uns auf die baldige Schließung der Refugios hin. Ich war nicht der einzige, der gerne länger geblieben wäre. Ohne Zapfenstreich hätten wir sehr wahrscheinlich bis in die frühen Morgenstunden gesungen und Wein getrunken. Die Nacht im »Theater« schlief ich tief und fest.
» Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht.«
Hermann Hesse, Siddhartha
9 Markus-Evangelium
Pilger sind erfinderisch. Sie ziehen sich Socken über ihre Hände, wenn sie keine Handschuhe zur Verfügung haben. Es war eisig kalt am frühen Morgen. Ich entschied mich für eine andere Variante, steckte meine Hände in die Hosentaschen und meine Wanderstöcke zwischen den Rucksack und meinem Körper. Und legte einen Zahn zu, damit die Wärme schneller ihren Weg in meinen Körper finden konnte. Die Sonne ließ sich Zeit und stieg langsam am Horizont, vor einem tiefblauen, wolkenfreien Himmel empor. Mein Schatten war ungewöhnlich lang und wies mir mein Ziel - Santiago.
Mit meinen Gedanken beim gestrigen Abend wanderte ich schnellen Schrittes. Von einem Gebäude aus, das sich wenige Meter neben dem Wanderweg in einem Getreidefeld befand, rief mir eine Frau zu, ob ich Interesse hätte, das älteste Gebäude auf dem gesamten Jakobsweg zu besichtigen: »Ruinas Monasterio S. Felix«. Mein Gefühl sagte, dass ich mir diesen unscheinbaren Bau näher ansehen sollte. Die Pilgerin aus Frankreich lächelte mich auf eine seltsame Art an und verabschiedete sich.
Es handelte sich um einen quadratischen Bau, etwa fünf Meter hoch wie breit, von Gras überwuchert, der nur aus einem Raum bestand. Den Zugang verwehrte eine schwarze Gittereisentür. Zwischen den massiven Stäben entdeckte ich außer Staub und Steinen nichts Besonderes. An der Tür befand sich eine zentimeterdicke Eisenschnalle, an der ein Schloss befestigt war. Als ich näher trat, blitzte mir etwas aus dem Hohlraum der Eisenschnalle entgegen.
Neugierig zog ich einige sorgsam zusammengefaltete Papierzettel heraus. Beim Auseinanderfalten lief mir ein kalter Schauer den Rücken hinunter und wieder hinauf. Ich hielt Seiten aus der Bibel in meinen Händen. Das Markusevangelium, in deutscher Sprache. Sofort musste ich an die französische Pilgerin denken. Nein, sie hatte die Seiten bestimmt nicht dort hinterlassen.
Verwundert fing ich an zu lesen: » Und die Schriftgelehrten und Pharisäer, da sie sahen, dass er mit den Zöllnern und Sündern aß, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst und trinkt er mit den Zöllnern und Sündern ? Da das Jesus hörte, sprach er zu ihnen: Die Starken bedürften keines Arztes, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, zu rufen die Sünder zur Buße, und nicht die Gerechten. «
Heftige Gefühle tobten in mir. Was hatte das zu bedeuten? Angestrengt versuchte ich einen klaren Gedanken zu fassen. Waren diese
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