Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
einsame Insel oder eine Berghütte zurückziehen zu wollen, weil mir nach Ruhe war. Während ich ihr von meinen Plänen erzählte, schaute sie mich nur an. In ihrem Blick lagen alle Antworten, die ich brauchte. Monate zuvor hatte ich ihr von meinem Vorhaben berichtet, mich auf den Jakobsweg zu begeben. Sie wusste von meinem Zögern, von meinem Aber, von meinen Ängsten. Ihre Augen sagten mir: »Geh endlich! Mach dich auf!« Aufgewühlt fuhr ich an jenem Spätnachmittag nach Hause. Am Folgetag packte ich meinen Rucksack.
Tränen des Glücks liefen über meine Wangen. Ich weinte, ich weinte warme Tränen, ich weinte Tränen der Liebe - ich liebte meine Tränen. Und ich ging, ging den Weg der Tränen, den Weg der Liebe, den Weg der Menschen, den Weg Gottes, den Weg zum Grabe von Jakobus nach Santiago de Compostela. Compostela bedeutet Sternenfeld. Ich gehe zum Sternenfeld. Ich gehe zu den Sternen. Gibt es einen schöneren Weg als den zu den Sternen? Die Zeit war mir mal wieder abhanden gekommen. Seit Jahren steckte meine Armbanduhr in meiner Hosentasche. Zu lange hatte ich ständig auf meine Uhr sehen müssen. »Ist die Arbeit endlich fertig? Der Kunde wartet. Sie müssen Überstunden machen.« Ich habe Überstunden gemacht, viele, zu viele. Mein Körper hat heftig auf die Mehrarbeit reagiert. Er hat mir Signale in Form von Krankheiten geschickt, in Form von Schmerzen. Hörte ich nicht auf die Signale, traten sie häufiger auf, wurden heftiger. Irgendwann musste ich hören, musste ich eine Pause machen, weil die Schmerzen unerträglich geworden waren. Ich habe hingesehen, hingehört, mich bei den Signalen bedankt.
Vor Jahren, im Urlaub auf La Palma, ertrug ich die Uhr an meinem Handgelenk nicht länger. Ich steckte sie in die Hosentasche. Mein Handgelenk war wieder frei. Und ich war befreit von der Sucht, ständig auf die Uhr sehen zu müssen. Nun kramte ich sie aus meiner Hosentasche. Es war noch früh. Immer stärker fühlte ich, unendlich viel Zeit zu haben. Ja, zeitlos zu sein. Mir war nicht mehr wichtig, wann ich in Santiago ankommen würde. Manchmal fürchtete ich mich sogar vor dem Ankommen in Santiago. Wenn ich dort bin, stellte ich erschrocken fest, ist meine einzigartige Reise zu Ende. Ich möchte nicht, dass sie endet. Ich möchte weitergehen, bis ans Ende meines Lebens möchte ich nur noch gehen, gehen und gehen.
Oft blieb ich stehen, wandte mein Gesicht in alle Himmelsrichtungen und ließ die Eindrücke in mich einkehren. Ich liebte den Geruch der Erde, der Blumen, der Bäume. Ich konnte das Duftgemisch, das meine Nase umwehte, das in der Luft lag, nicht benennen, wusste seinen Namen nicht, es brauchte keinen Namen. Es war ein betörender Geruch, der meinen gesamten Körper erfüllte. Sich auf sämtliche Organe legte. Schmetterlinge begleiteten mich immer wieder ein Stück meines Weges. Ob es ihnen bewusst ist, dass sie die Welt verschönern?, fragte ich mich. Ein unendlich langer, gerader Weg lag vor mir. Keine Menschenseele weit und breit zu sehen. Während ich mein Peregrinolied in den feinen Tag trällerte, kamen mir weitere Texte in den Sinn:
Peregrino, Peregrino,
ich gehe jeden Tag,
denn ich bin ein Peregrino.
In jedem Ort mache ich halt,
und segne die Menschen dort
als Peregrino.
Santiago de Compostela –
ich gehe jeden Tag
ein Stück nach Santiago.
Denn dort ist mein Ziel
und ich komme an,
denn ich bin ein Peregrino.
Buen camino, Buen camino,
das ist der Gruß der Peregrinos,
sie haben ein Ziel
und geben nicht auf,
denn ihr Ziel, das ist Santiago.
Ich fühlte die 26 Kilometer, die hinter mir lagen, in meinen Knochen und fasste den Entschluss, mein Nachtlager in der nächsten Herberge aufzuschlagen. Als ich aus dem Wald kam, präsentierte sich mir ein imposantes Kloster, das friedlich im Grünen auf 1.000 Meter Höhe lag. San Juan de Ortega widmete sein Leben der Fürsorge von Pilgern und errichtete im 12. Jh. das Kloster, welches 300 Jahre später im gotischen Stil erneuert wurde.
Vor der Herberge saßen Pilger auf einer Bank und teilten uns mit, dass alle Betten belegt seien. Die alte Herbergsmutter, die im gleichen Moment aus der Tür trat, bestätigte diese Aussage. Ein Pilger empfahl, mit dem Bus in die nächste Ortschaft zu fahren, wo es möglicherweise Übernachtungsmöglichkeiten in einer privaten Herberge gäbe. Ich füllte eine Wasserflasche auf und bekam das Gefühl, dass Ortega an diesem Tag sowieso nicht der richtige Platz für mich sei. Aufmerksam
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