Ein neues Leben auf dem Jakobsweg
Glauben.
Nun wurden die Worte der Bibelseiten, die ich am ältesten Gebäude des Caminos gefunden hatte, in mir wach: Nur die Schwachen und Kranken brauchen einen Arzt. Die Starken und Gesunden benötigen keinen. In diesem Zusammenhang musste ich an meine Auslandskrankenversicherung denken, die ich vor meiner Pilgerschaft für den Fall einer Erkrankung abgeschlossenen hatte. Wie von selbst nahm ich sie aus meiner Hosentasche und zerriss sie, mit dem ganzen Vertrauen, das in mir war und der Gewissheit, gesund und stark zu sein. Und dies auch in Zukunft zu bleiben. Während ich die Papierfetzen in meine Hose steckte, fiel mir der Stein der Vergebung ein, den ich von Zuhause mitgebracht hatte und der zu einem späteren Zeitpunkt am Cruz de Ferro (Kreuz der Vergebung), hinter Foncebadón, seinen Platz finden sollte. Der Tradition folgend, legen die Pilger mit dem Stein ihre Sünden und Vergangenes ab. Damit ist ihnen vergeben. Ich war mir sicher, dass Gott mir meine Sünden bereits vergeben hatte und ich nicht bis zum Cruz de Ferro warten musste. Ich nahm meinen Stein aus dem Rucksack und warf ihn auf den Acker.
Drei Pilger, in eine lebhafte Unterhaltung vertieft, brachten mich zurück in die Gegenwart. Ich ging hinauf zum Kreuz, bedankte mich nochmals bei Gott, schulterte meinen Rucksack, nahm meine Wanderstöcke und machte mich auf den Weg, der bergab verlief. Linker Hand erblickte ich eine Baumallee, die aus großen Zitterpappeln bestand, neben denen sich ein kleineres Gebäude mit einer Kuppel befand, auf dem eine Friedensfahne thronte. Eine zwei Meter hohe Jakobsmuschel, von einem Maler kreiert, zierte die hellblaue Frontwand. An der nächsten Wegbiegung stand auf einem handgeschriebenen Hinweisschild: »Herberge San Bol«. Mein Gefühl sagte mir: »Das sehen wir uns mal an.«
Der Himmel schien mit sanftweißen Schleierwolken meine Gefühlswelt auf eine wundersame Weise widerzuspiegeln. Unterhalb der Herberge, an einer Quelle, begrüßte ich einen deutschen Pilger. Ich erzählte ihm von meinen Erlebnissen am Templerkreuz und dem Gefühl, Gott begegnet zu sein. Er sah mich ungläubig an, nickte lediglich mit dem Kopf und wendete sich wieder seiner Arbeit, dem Geschirrabwaschen, zu.
Daraufhin ging ich in die Herberge, wo mich Giulio, ein junger Italiener, der sich mit einem Spanier um Herberge und Pilger kümmerte, begrüßte. Er bot mir einen Platz am hölzernen Küchentisch an. Weil meine Gefühlswelt heftig aus den Fugen geraten war und ich nicht im Geringsten wusste, wie mir geschah, trank ich Rotwein, um mich zu beruhigen. Meinen Rucksack stellte ich in eine Ecke und bot Giulio von meinem Schinken, Käse und Brot an. Er lehnte dankend ab und wies auf den riesigen Topf mit Pasta, der auf dem Herd stand. Während ich mein Essen verspeiste, trank ich nach und nach von dem Wein. Weil ich mich in der einfachen Herberge bei den netten Menschen wohlfühlte, beschloss ich, zu bleiben. An diesem Tag hatte ich zwar nur 16 Kilometer zurückgelegt, verspürte jedoch wegen der außergewöhnlichen Ereignisse kein Bedürfnis, weiter zu gehen. Die Papierfetzen meiner Auslandskrankenversicherung warf ich in den Bollerofen, der die Herberge mit wohliger Wärme versorgte.
Dass die Herberge keine Toiletten und Duschen zu bieten hatte, störte mich nicht. Schließlich gab es draußen eine riesengroße Außentoilette in Form von Gottes freier Natur. Waschen konnte ich mich in dem Wasserbecken neben der Herberge. An der Wand entdeckte ich eine Gitarre. Ich nahm sie, ging hinaus und spielte La Paloma, was auch sonst. Es war schließlich mein Lieblingslied. Giulio, der mit einer silbernen Querflöte erschien, deutete mir gestenreich an, mich neben die Herberge zu stellen, um mit meinem Gitarrenspiel weitere Pilger, die mich vom Weg aus sehen konnten, anzulocken. Er setzte sich aufs Dach der Herberge und spielte eine zauberhafte Melodie. Das ganze erinnerte mich an den »Rattenfänger von Hameln«. Die Zitterpappeln wurden vom böigen Wind heftig durchgeschüttelt. Es war frisch. San Bol lag auf einer Höhe von 900 Meter.
Nach und nach fanden sich weitere Pilger ein. Ein deutsches Paar aus Hannover, eine Pilgerin aus Österreich und Inge aus Dänemark, die sich über unser Wiedersehen genauso freute wie ich. Weil mir nach Bewegung war, unternahm ich einem Spaziergang. Am Fuße eines Abhangs setzte ich mich auf eine Rasenfläche und ließ meinen Blick über die Felder schweifen. In dieser friedvollen, lieblichen Naturfülle verlor
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